Brilon/Berlin. Sein Vorgänger im Wahlkreis hieß Franz Müntefering. Jetzt arbeitet sich der Briloner Politiker Dirk Wiese in der SPD nach oben. Mit leisen Tönen.
Die lauten Töne liebt er nicht. Pragmatisch nach Lösungen suchen, das ist sein Ding. Radau, Konfrontation nicht. „Der braucht keine Trompete, um auf sich aufmerksam zu machen“, sagt einer, der im Bundestag ganz in seiner Nähe sitzt. „Er hält sich eher zurück.“ Jetzt ist der Mann, der sich selbst als „nüchternen Sauerländer“ bezeichnet, auf der Karriereleiter wieder eine Sprosse nach oben geklettert: Vor kurzem wählte die SPD-Fraktion im Bundestag den Briloner Abgeordneten Dirk Wiese zum Stellvertretenden Vorsitzenden.
Dirk wer?
In seiner Heimat stellt diese Frage schon lange niemand mehr, in Berlin wohl eher. Gerade weil Wiese die Dinge eher ruhig und besonnen angeht und nicht das grelle Scheinwerferlicht sucht. „Wir Sauerländer kommen ja manchmal etwas trocken rüber , mit den seit Franz Müntefering berühmten kurzen Sätzen“, sagt die Iserlohner SPD-Bundestagsabgeordnete Dagmar Freitag. „Ich schätze Dirk aber eben genau wegen seiner ruhigen, fachkundigen Art und seiner Zuverlässigkeit. Genau solche Leute brauchen wir. Für mich ist das jemand mit Perspektive.“
Einstieg über die Landesliste
Wieses politische Leben setzt sich zusammen aus einer Kette von Überraschungen. 2013 zitterte sich der damals 29-Jährige über die NRW-Landesliste in den Bundestag, als Nachfolger im Wahlkreis des SPD-Urgesteins Franz Müntefering, dessen Referent er vorher war. Zu verdanken hatte er das Mandat vor allem dem damaligen Absturz der FDP, der anderen Parteien zahlreiche Listenplätze öffnete. Auch vier Jahre später machte das Volk die Wahl so spannend, dass Wieses Wiedereinzug ins Parlament erst am Morgen nach der Abstimmung sicher war. 2017 ernannte ihn die damalige Bundeswirtschaftsministerin Brigitte Zypries (SPD) kurzerhand zum Parlamentarischen Staatssekretär, im Alter von 33 Jahren. Damit zählte er zu den jüngsten Trägern dieses Amtes in der Geschichte der Bundesrepublik. Und im April 2018 wurde Wiese zum Russland-Beauftragten der Bundesregierung berufen – obwohl er das Land von Wladimir Putin bis dahin noch nie besucht hatte.
Wer im politischen Umfeld des Briloners nach den Gründen für seinen rasanten Aufstieg sucht, hört ziemlich oft diesen Satz: „Er ist jung!“ Wiese steht für den Generationswechsel in einer Partei, die schon viel bessere Zeiten gesehen hat und die momentan wie festgetackert im Umfragetief steckt.
Aber selbstverständlich reicht das Geburtsjahr nicht aus als Qualifikation für eine Teilnahme in der Politik-Profiliga. Wiese ist Jurist, er trat 2003 in die SPD ein und kandidierte ein Jahr später für den Stadtrat in Brilon. Mittlerweile ist er auch Sprecher des pragmatischen, eher konservativen Seeheimer Kreises und führt den SPD-Bezirk Südwestfalen. Die Bodenhaftung holt er sich der Vater einer Sohnes unter anderem im Briloner Fußballverein, in der Schützenbruderschaft, im Sauerländer Heimatbund und im Bürgerbusverein.
Immer wieder ab ins kalte Wasser
Er könne sich schnell in neue Themen einarbeiten, heißt es über den Fußball-Fan, der im Parlament den BVB-Fanklub Bundestags-Borussen mitorganisiert. Und hartnäckig sei er auch. Für seine Leistungen werde er respektiert, man könne sich auf ihn verlassen.
„Sicher bin ich oft ins kalte Wasser geworfen worden. Aber offensichtlich habe ich die Aufgaben aus Sicht der Fraktion ganz gut erledigt“, sagt Wiese selbst. Manchmal sei der ein oder andere neue Posten auch dem Zufall geschuldet gewesen, räumt er ein. Dass er Staatssekretär werden konnte, hat er beispielsweise Sigmar Gabriel zu verdanken, der seinerzeit lieber Außen- und nicht mehr Wirtschaftsminister sein wollte. Die Stellvertreter-Funktion in der SPD-Fraktion fiel Wiese jetzt zu, weil die Sozialdemokraten Vorgängerin Eva Högl unter lautem öffentlichen Getöse in das Amt der neuen Wehrbeauftragten manövrierten.
Wieses Karriere als Zufall zu bezeichnen wäre allerdings ungerecht. Er gilt als gut vernetzt, nicht nur im Sauerland, sondern auch in der Hauptstadt. Und selbstbewusster ist er im Laufe der Zeit auch geworden: „Ich traue mir die Aufgabe als Stellvertreter in der Fraktion zu“, sagt er. Dort ist er nun für den Bereich Innen, Recht und Verbraucherschutz, Kultur und Medien, Sport, Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zuständig.
Den Bundestags-Borussen bleibt er treu
Damit sieht Wiese Kernfragen sozialdemokratischer Politik betroffen: „Die Corona-Krise hat gezeigt, wie wichtig Rechtspolitik ist. Wir müssen erklären, warum Eingriffe in die Grundrechte notwendig sind und sicherstellen, dass sie nur solange gelten wie absolut notwendig.“ Corona biete nun die Chance, viele Dinge neu zu denken.
Neu denken muss er jetzt oft. In den vergangenen Tagen veröffentlichte Wiese offizielle Statements unter anderem zum Konjunkturpaket für die Kultur, zur polizeilichen Kriminalstatistik und zum VW-Urteil des Bundesgerichtshofes. Das erste Interview in neuer Funktion gab er dem SPD-Blatt „Vorwärts“. Und eine Fraktionssitzung hat er auch schon geleitet.
„Ich habe jetzt ganz schön viel zu tun“, sagt er. „Mein Schreibtisch in Berlin ist voll.“ Aber das Amt des Kassierers bei den Bundestags-Borussen, das will er nicht abgeben.