Hagen. Schweden gegen den Rest der Welt? Skandinavier verzichten auf Verbote. Ein Interview mit Claus Wendt über Herdenimmunität und Vertrauen.
Schweden setzt in der Corona-Krise – anders als alle anderen europäischen Länder – auf Freiwilligkeit. Es gibt wenig Verbote, dafür mehr Empfehlungen. Restaurants, Geschäfte, Schulen und Sportstätten bleiben unter Einschränkungen offen. Obwohl die Zahl der Corona-Toten dreimal so hoch ist wie in den Nachbarstaaten Dänemark, Finnland und Norwegen zusammen, gilt die Strategie nicht als gescheitert. Professor Dr. Claus Wendt (51), der an der Universität Siegen den Lehrstuhl für „Soziologie der Gesundheit und des Gesundheitssystems“ inne hat, analysiert seit Wochen die Hintergründe dieses Sonderwegs. Ein Interview über das große Vertrauen in den Wohlfahrtsstaat und Herdenimmunität.
Gibt es ein erstes Fazit vorweg?
Claus Wendt: Der schwedische Weg in der Corona-Krise wird extrem negativ, fast feindselig behandelt. Karl Lauterbach (SPD) zum Beispiel hat sich sehr zugespitzt dazu geäußert und Zahlen präsentiert, die so nicht korrekt bzw. ehrlich sind. Eine differenzierte Betrachtung ist geboten. Und das braucht Zeit. Dazu gehört auch, die gesundheitlichen Gefahren und die höhere Sterblichkeit bei einer zunehmenden Arbeitslosigkeit oder höheren Armut im Blick zu haben. Letztlich werden wir erst nach Ende der Krise, wenn wir einen Überblick darüber haben, in welchem Ausmaß die Sterblichkeit des Jahres 2020 von den Vorjahren abweicht, wissen, mit welcher Strategie die Menschen am besten geschützt werden konnten.
Mehr Vertrauen, wenig Regeln: Die Zahl der Toten ist hoch, vor allem bei Älteren. Ist der schwedische Weg auf lange Sicht trotzdem besser?
Eine schwierige Frage. Wir blicken in dieser Zeit immer nach Schweden. Wenn wir aber wissen wollen, welcher Weg möglichst zu vermeiden ist, sollten wir eher nach Belgien und Frankreich schauen. Dort sind die Gesundheitssysteme ähnlich aufgebaut wie bei uns und die Sterberaten wesentlich höher als in Schweden. Was den Skandinaviern hilft, schneller auf Veränderungen in der Krise zu reagieren, sind die umfassenden Daten, die dem schwedischen Gesundheitsamt zur Verfügung stehen. Den aktuellen Zahlen zufolge sinkt die Sterblichkeitsrate seit zwei, drei Wochen kontinuierlich. Mit diesem Verlauf können die Schweden zufrieden sein.
Kaum ein Land verfügt über so umfassend gute epidemiologische Daten wie Schweden. Ein Vorteil in solch einer Krise?
Nicht umsonst wird immer wieder international auf schwedische Langzeitstudien verwiesen. Durch eine zentralisierte Datenbank können Risikogruppen besser identifiziert und geschützt werden. Die Reaktionszeit wird dadurch verkürzt. In Schweden haben alle Bürger eine Sozialversicherungsnummer unter der demografische und Gesundheitsdaten gespeichert werden. Wenn man wissen will, wie sich bestimmte Krankheiten im Verlauf eines Lebens entwickeln und welche Einflussfaktoren hierfür von Bedeutung sind, ist man gut beraten, auf Schweden mit seinen Registerdaten zu blicken. In Deutschland haben wir Wissenschaftler derzeit keinen Zugang zu Daten von einer ähnlich hohen Qualität. Das ist in der jetzigen Krise zweifellos ein Nachteil.
Der Schutz der Alten ist eine zentrale Säule des schwedischen Kurses. Ist er angesichts der vielen Todesfälle vor allem in Pflege- und Altenheimen gescheitert?
Da gibt es Parallelen zu Deutschland. In beiden Ländern haben wir einen hohen und teilweise zunehmenden Anteil an privaten Pflegeeinrichtungen. Schweden hat im Vergleich zu Deutschland den Vorteil, dass der Pflegesektor und die Verbindungen zwischen Pflege und Gesundheitsversorgung besser koordiniert werden. Ein Nachteil ist aber auch hier der Privatisierungsprozess, der eine schnelle Intervention und eine einheitliche Vorgehensweise erschwert hat. In Dänemark, wo Heime meist in der öffentlichen Hand sind, ist die Sterblichkeitsrate wesentlich geringer.
Hat Schweden Senioren geopfert, wie einige Tageszeitungen berichten?Das ist völlig übertrieben. Insgesamt ist der Pflegesektor besser aufgestellt als in Deutschland. Aber sie haben ihre Möglichkeiten, schnell intervenieren zu können, überschätzt. Sowohl in Deutschland als auch in Schweden sollte intensiv diskutiert und daran gearbeitet werden, die Lebensbedingungen pflegebedürftiger Menschen zu verbessern und ihnen ein würdevolles Leben zu ermöglichen. Will die schwedische Regierung Herdenimmunität?Schwedens Chef-Epidemiologe Anders Tegnell verneint es immer wieder. Aber natürlich hofft er, dem schrittweise näher zu kommen. Noch fehlen die Zahlen dafür. Der Blick auf die vielen noch nicht belegten Intensivbetten scheinten den Schweden aber Recht zu geben. Nur wenn innerhalb dieses Jahres ein Impfstoff zur Verfügung steht, kann Deutschland behaupten, mit seinen restriktiveren Maßnahmen alles richtig gemacht zu haben. Ohne Impfstoff gibt es gute Argumente für die schwedische Vorgehensweise. Zumindest sprechen die sinkende Sterblichkeit und der abnehmende Bedarf an Intensivbetten dafür, dass die Schweden für eine zweite Welle besser gewappnet sind.
Funktioniert der Appell an die Vernunft der schwedischen Bürger besser als bei uns?Das kann man so sagen. Es hat mit gewachsenem Vertrauen zu tun. Der Großteil der Bevölkerung folgt dem Sonderweg. Ich bin häufig in Schweden und kann immer wieder beobachten: die kulturelle-soziale Kontrolle findet dort in höherem Ausmaß statt als hierzulande. Natürlich hat das auch etwas mit Disziplin und den höheren Bußgeldern für Verstöße beispielsweise im Straßenverkehr zu tun. Und mit dem höheren Bildungsstand. Zahlreiche internationale Studien zeigen, dass eine bessere Bildung und höhere Gesundheitskompetenzen das Gesundheitsverhalten und die Gesundheit verbessern.
Warum ist die Gesundheitsförderung in Schweden besser als bei uns?Das deutsche Gesundheitssystem basiert auf einer Krankenversicherung und eine Versicherung wird vor allem dann aktiv, wenn der Schadensfall, also die Krankheit, schon eingetreten ist. Prävention wird eher am Rande behandelt. Anders im staatlich organisierten Gesundheitssystem in Schweden, wo Prävention eine große Rolle spielt. Da werden Gesundheitsziele aktiv angegangen. Ein Beispiel dafür sind rauchende Frauen in Schweden. Noch in den 70er Jahren war ihre Quote im weltweiten Vergleich besonders hoch. Inzwischen sind weniger als zehn Prozent der Schwedinnen Raucher. Ab 2025 soll Schweden vollständig rauchfrei sein. Durch weniger Raucher hat Schweden auch weniger Risikopersonen, für die Atemwegserkrankungen wie Covid 19 besonders gefährlich werden können. Dadurch, dass die Schweden gesünder leben und die Risikogruppen im Vergleich so klein sind, haben sie bessere Möglichkeiten als andere Länder, diesen Weg ohne restriktive Vorgaben zu gehen.
Spielt der schwedische Wohlfahrtsstaat bei diesem Sonderweg eine Rolle?Wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen reduzieren Vorerkrankungen und schützen so während einer Epidemie. Das kann man mit einem Vergleich zwischen England und Skandinaviern gut darlegen. Die soziale Ungleichheit ist auf der Insel wesentlich größer als in Schweden. Der Wohlfahrtsstaat hat dafür gesorgt, dass sich bei den Skandinaviern die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter schließt. Das sieht man gut am Beispiel der Alleinerziehenden, die in Schweden unter einem besonders großen Schutz stehen. Insgesamt gibt es in Schweden weniger Menschen, die zur Risikogruppe gehören. Und das bedeutet: weniger Risiko beim Sonderweg.
Warum ist das Vertrauen in die Politik, in die Institutionen in Schweden so groß?Das hat etwas mit positiven Erfahrungen im Wohlfahrtsstaat zu tun. Damit wächst Vertrauen. Das Gefühl der sozialen Sicherheit ist in Schweden höher. Die Menschen haben weniger Angst, sozial abzurutschen und alles zu verlieren. Aktuell sehen wir, dass die Politik den Menschen dieses Vertrauen erwidert und ihnen mehr Entscheidungsspielräume lässt als in anderen Ländern. Dieses gegenseitige Vertrauen ist über viele Jahre hinweg gewachsen.
Kann Deutschland in der Krise von den Schweden etwas lernen?Durchaus, allen voran, mehr Geld für Prävention auszugeben. Eine weitere Erkenntnis: Primäre Gesundheitszentren sind effektiver als dezentrale Praxen. Der öffentliche Gesundheitsdienst ist auszubauen. Eine zentrale Erfassung von Gesundheitsdaten gehört ebenso dazu. Dadurch können die Schweden schneller mit strukturellen Veränderungen in Krisenzeiten reagieren. In Deutschland sind vor allem Pflegeleistungen und deren Koordination auf kommunaler Ebene verbesserungswürdig. Aus Sicht der ärztlichen Ethik geht es um jedes einzelne Leben. Darauf haben deutsche Politiker gesetzt. In Schweden hat man auch auf die gefährdeten Leben durch Arbeitslosigkeit, Ungleichheit und Armut geblickt. Und die Schweden vertrauen auf diese langfristige, differenzierte Sicht. Letztlich werden alle Länder aus der Pandemie lernen müssen.