Hagen/Sundern. Justine Bauer und Barbara Peveling betreiben literarische Feldforschung in der Region. Von Corona lassen sich die Autorinnen nicht ausbremsen
Den Semmelsegen hat Dr. Dr. Barbara Peveling in der Pariser Vorstadt auf dem häuslichen Klo mit dem Handy verfolgt - der einzige Ort, wo in Corona-Zeiten eine dreifache Mutter zwischen Homeschooling und Homeoffice mal fünf Minuten Ruhe findet. Die Autorin ist die neue Regionsschreiberin für Südwestfalen. Und sitzt weit weg im Banlieue mit Mann und Kindern fest. Daher betreibt die 45-Jährige virtuelle Feldforschung und ruft an diesem Wochenende zwischen Hagen und Siegen zu einer interaktiven digitalen Schreibperformance auf.
Auch Justine Z. Bauer sitzt fest. In einer Ferienwohnung in Sundern-Amecke. Die 29-Jährige ist Regionsschreiberin für das Sauerland. „Es ist schwer, an einem Ort anzukommen, wenn man mit den Leuten nicht reden kann“, bekennt sie. Alle geplanten Lesungen und Termine fallen jetzt aus.
Initiative des NRW-Kulturministeriums
Das Regionsschreiber-Projekt ist eine Initiative des NRW-Kulturministeriums. Zehn Stipendiaten erforschen die zehn Kulturregionen NRWs aus neuen Perspektiven. Sie erhalten eine freie Wohnung, die Fahrkosten sowie ein Honorar von 1800 Euro im Monat. „Ich finde die Situation komisch, weil es trotz Corona das erste Mal ist, dass ich Geld für mein Schreiben bekomme“, sagt Justine Bauer. „Es ist krass, aber auch gut, weil ich von der Summe Geld für die Zukunft zurücklegen kann. Das gibt ein Gefühl der Sicherheit.“
Justine Bauer ist auf einem Bauernhof in Süddeutschland aufgewachsen. Landwirtschaft und die Transformationsprozesse auf dem Land sind Themen ihrer künstlerischen Arbeit. Die Situation von Bäuerinnen soll im Mittelpunkt ihrer Recherchen stehen und die Frage, wie Landwirte ihren Kindern erklären, dass man vom Hof nicht mehr leben kann. So wie sie es selbst zu Hause erfahren hat. „Wenn man aus der Landwirtschaft kommt, braucht man den Kontakt zu Tieren und zur Natur.“
Mit ihren Texten will Justine Bauer gegen Klischees anschreiben. „In Provinzromanen und Filmen sind die Protagonisten immer Leute, die wegwollen, und es wird als Erfolg dargestellt, wenn sie weggehen. Meine Meinung ist, dass die Leute, die bleiben, die spannenderen Geschichten haben.“
Lieder vom Bleiben und Gehen
Lieder vom Bleiben und Gehen kann Barbara Peveling ebenfalls singen. Sie ist in Siegen geboren und in Olpe aufgewachsen, wo die Großeltern noch leben; ihre Mutter Dagmar Peveling ist als erste Galeristin Olpes den Kunstfreunden ein Begriff. Barbara Peveling hat in Ethnologie promoviert und eine zweite Doktorarbeit in Geschichte geschrieben. Sie ist mit einem Pariser verheiratet und eine Pendlerin zwischen den Kulturen. Als Regionsschreiberin will sie ihre alte Heimat mit dem professionellen Blick der Ethnologin neu vermessen. „Meine Pläne waren, zu erkunden, was die Region ausmacht. Alle gucken auf Netflix dieselben Serien, aber was ist das Eigene, das Widerständige? Dafür muss man beim Schützenfest dabei sein. Das geht ja jetzt gar nicht. Also versuche ich, die Feldforschung von Zuhause aus digital zu ermöglichen.“
Wie eine Geburt wirklich ist
Frauen sind ein großes Thema in Barbara Pevelings Arbeit. „Ich bin seit über 20 Jahren Mutter. Es ist wirklich hart, sich trotz des Mutterseins einen Platz im Literaturbetrieb zu verschaffen. Frauen lesen, Männer schreiben. Dass endlich auch einmal gelesen wird, wie eine Geburt wirklich ist, das ist neu. Wir kämpfen darum, dass Frauen publiziert werden.“
Eine Stunde am Tag darf Barbara Peveling das Haus verlassen, einen Kilometer darf sie sich von ihrem Heim entfernen, dafür muss sie sich im Internet einen Passierschein besorgen. Die Franzosen setzen gegen Corona nicht auf freiwillige Kontaktverbote, sondern auf Ausgangssperren. Deshalb war es gut, dass der Attendorner Semmelsegen Ostern live im Internet gestreamt wurde. Und Barbara Peveling hofft, dass sich viele Menschen an ihrem interaktiven Schreibprojekt beteiligen.
Schreiben auf dem Hochsitz
Justine Bauer hingegen ist unerwartet zweisam in Amecke. Ihr Freund hat ihr geholfen, das Gepäck und den Hund mit Bahn und Bus in das Dorf zu bringen. Dann kam der Lockdown, der Freund blieb. Die Dynamik der weiten Welt macht es der Autorin noch schwer, sich auf die Brennglassituation vor Ort zu fokussieren. Das Paar hat sich als Erntehelfer beworben, als die Personalnot der Spargelbauern bekannt wurde. „Ich kann gut anpacken“, sagt sie. Aber es hat sich kein Betrieb zurückgemeldet. Zum Schreiben braucht Justine Bauer den Überblick. Deshalb schreibt sie gerne auf Hochsitzen. Das Ziel? „Ich versuche, das Große am Kleinen zu erzählen.“
Digitale Live-Geschichte: Jeder kann mitschreiben
Am 25. April um 0.01 Uhr eröffnet Barbara Peveling die Aktion „The Reader is Present“ mit einen Blog auf der Seite von stadt.land.text NRW 2020. In diesen Beitrag lässt sie alle Texte einfließen, die ihr bis 26. April um 0 Uhr zukommen. Der Text wird sich auf diese Weise über 24 Stunden hinweg live ständig verändern. Jeder Beitrag ist willkommen, auch wenn es nur ein Satz ist, z.B. über eine Fahrt auf der A 45 oder eine Tour an den Biggesee. Daraus soll gemeinsam ein Patchwork an Beobachtungen und Geschichten entstehen. Die Beiträge kann man an folgende Adressen senden: peveling@kulturregion-swf.de. Twitter: Barbara Peveling. Instagram: Barbara Peveling. Facebook: Pin an Barbara Peveling