Hagen / Hohenlimburg. Auch Pflegeheime unterliegen strengen Verboten. Haben die Bewohner Angst vor dem Virus? Vor der Einsamkeit? Die Antworten überraschen.

Frau Jurak hat in ihrem Zimmer ein Fenster zum Hof. Sie schaut gern hinaus, gerade an Tagen, an denen die Sonne so schön scheint. Dann sei da was los, sagt sie. Es ist sonnig. „Aber derzeit sehe ich da nix“, sagt die 77-Jährige. Keiner da. So wie in der Cafeteria des Pflegeheims „Am Schlossberg“ in Hagen-Hohenlimburg. Die ist seit Tagen gesperrt.

Besuch?

Kommt auch kaum noch.

Frisör?

Fußpflege?

Physiotherapie?

Abgesagt.

Fast alles, was den Alltag auflockert, ist jetzt hoch offiziell verboten. Schutzmaßnahmen in Zeiten, in denen das Coronavirus die Welt in Atem hält. Die Verbote gelten seit wenigen Tagen und für fünf Wochen. Mindestens. „Wir werden das alles schaffen“, sagt Frau Jurak. Sie und die anderen - so sieht sie das - haben schon ganz anderes geschafft.

In der Früh saß Erika Jurak wie jeden Morgen mit den anderen Bewohnern von Wohngruppe 4 am Frühstückstisch. 20 sind sie insgesamt, immer die gleichen in kleinen Gruppen an einem Tisch. An Frau Juraks Tisch eine Frau, die heute ihren 94. Geburtstag feiert. Ein Ständchen gab‘s und ein Geschenk von der Gruppe. Die Dame vergisst mittlerweile viel, versteht nicht, was gerade um sie herum passiert. „Sie war ganz traurig, dass kein Besuch kommen wird“, sagt Frau Jurak. Sie hat versucht, es ihr zu erklären. Sie weiß, sie wird es wieder tun müssen.

Besuchszeiten: Pro Tag darf nur eine Person für eine Stunde zu einem Bewohner

Die Besuchszeiten sind auf eine Stunde und einen Gast am Tag pro Person beschränkt. Gäste müssen sich am Eingang in Listen eintragen. Die Mitarbeiter achten peinlich genau darauf, dass niemand ungesehen rein oder raus geht. Der Arzt kommt nur in dringenden Ausnahme-Fällen. Die Gottesdienste, das Frühlingsfest, der Auftritt des Männergesangsvereins – abgesagt.

Hat man da noch Angst vor dem Virus? Oder eher vor Vereinsamung?

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„Ach, wissen Sie“, sagt Frau Weber, Wohngruppe 3, „ich habe einen Weltkrieg überlebt und vier Kinder auch.“ Sie lacht. Sie sei ein Bonner Mädchen, eine Frohnatur. Sie mag Karneval und redet etwas mehr als ihr Sohn, der beim Radio arbeitet. Vier Enkel hat die 88-Jährige - und seit wenigen Monaten einen dritten Urenkel. „Wenn der einen ohne Zähne anlächelt“, sagt sie und gluckst, „herrlich.“ Der eine Sohn, Typ Lebenskünstlerweltenbummler, sagt sie, sei gerade aus Spanien zurückgekehrt. „Heute Nachmittag kommt er mich besuchen.“ Sie freut sich.

Besuch aus Spanien? Im Zweifel: lieber Vorsicht

Willi Strüwer räuspert sich. Der Leiter der Einrichtung sitzt bei dem Telefonat mit der Zeitung daneben. „Darüber müssen wir gleich nochmal reden“, sagt er freundlich. Spanien hat wegen der Ausbreitung des Coronavirus den Notstand ausgerufen. Wer gerade in einem Risikogebiet war, der darf seine Angehörigen im Pflegeheim nicht besuchen. Ist‘s in Spanien gefährlicher als hier? Weiß keiner. Im Zweifel: lieber Vorsicht. Der Sohn wird nicht kommen. „Bin eh nicht wild drauf“, sagt Katharina Weber, „wir haben ja gestern telefoniert.“ Wieder lacht sie.

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Telefonieren hilft. Frau Jurak hat sogar ein Handy. Die Kinder und Enkelkinder schicken ihr Bilder. Im Moment sind alle erkältet. „Bleibt wech“, habe sie ihnen gesagt. Sie weiß, dass alles nur zu ihrem Schutz ist. Sie findet das gut und richtig. Auch wenn sie gern Programm hat. Morgens wird nach wie vor gespielt. Gestern „Mensch, ärgere dich nicht“, heute „Rummikub“. „Die Veranstaltungen sind immer sehr schön“, sagt sie. „Wenn die Kindergartenkinder kommen und singen. Oder der Frisör. Oder die...Nagel-Tante, sag ich immer. Entschuldigung.“ Fußpflege, meint sie. „Dann hört und sieht man mal was anderes.“

"Virus ist hochgradig gefährlich für unsere Bewohner"

Für die kommenden Wochen sehen sie meistens nur die anderen Bewohner. Kontakt zu den weiteren Wohngruppen ist untersagt. „Wir sind ja gerade erst am Anfang. Wer weiß, wie lang dieser Zustand anhält“, sagt Willi Strüwer, der Einrichtungsleiter. Er freut sich über die Zuversicht der Damen. Aber er weiß auch, dass nicht alle so optimistisch sind, dass die Stimmung auch kippen kann. „Es gibt auch jene, die etwas mehr in der Vergangenheit leben, denen demnächst wichtige Ankerpunkte fehlen werden. Das könnte eine lange Strecke werden. Da besteht die Gefahr, dass einem die Decke auf den Kopf fällt, ist doch klar“, sagt er. „Aber das Virus ist hochgradig gefährlich für unsere Bewohner. Deswegen müssen wir sie schützen.“

Frau Weber freut sich auch, dass sie geschützt wird. Klingt nicht unbedingt danach, ist aber so. „Hören Sie, ich werde nächstes Jahr hoffentlich 90 Jahre alt“, sagt sie. „Ich bin alt.“ Die Gefahr des Virus schiebe sie beiseite. „Ich kann es ja eh nicht ändern.“ Fatalistische Gelassenheit. Und dass der Frisör nun nicht mehr kommt? „Ach, meine Haare wachsen von allein. Und die auf den Zähnen kämme ich mir manchmal.“ Sie lacht.

Die Bewohner sind sich gegenseitig Familie

Wenn Frau Jurak nicht aus dem Fenster oder auf den Fernseher schaut, dann begibt sie sich auch gern mal vor die Tür und genießt die Sonne. „Das kann ich doch weiterhin tun, oder“, fragt sie Willi Strüwer. Er weiß es noch nicht. Dazu gibt es noch keine Regel. Regeln sind im Moment wichtig. Er wird versuchen, es möglich zu machen.

Die Bewohner wollen sich nun gegenseitig helfen, füreinander Familie und Besuch sein. Frau Jurak denkt an das Geburtstagskind. „Als ich der Frau erklärt habe, dass auch alle anderen keinen Besuch bekommen, hat sie sich damit abgefunden.“ Sie überlegt. „Wenn es bei ihr nicht mehr geht, dann nehme ich sie unter meine Fittiche. Ich will nicht, dass sie traurig ist und weint.“

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Im Pflegeheim „Am Schlossberg“ des Pflege-Anbieters Wohlbehagen gibt es vier Wohngruppen mit jeweils 20 Bewohnern. Überall gelten verschärfte Maßnahmen. Unter anderem sind die Besuchsregeln angepasst, Behandlungstermine verboten, die Cafeteria ist geschlossen. Abgesagt sind „Am Schlossberg“ auch die Gottesdienste, das Frühlingsfest, das Osterfest, die Spieletage mit Kindergartenkindern, die wöchentliche Musikveranstaltung, der monatliche Diavortrag, der Schülerbesuch. Zudem wird jedes Maßnahme mit dem Gesundheitsamt abgestimmt. Mehrmals pro Schicht findet eine Flächendesinfektion von Kontaktstellen im gesamten Haus statt