Volkmarsen. Am Tag, nachdem beim Rosenmontagsumzug in Volkmarsen ein Pkw in eine Menschenmenge gerast ist, befindet sich der Ort in einem Schockzustand.
Am Tag danach steht Gunther Böttrich in seiner Burg-Apotheke und kann die Katastrophe beim Rosenmontagsumzug im nordhessischen Volkmarsen, vier Kilometer von der Landesgrenze zu Nordrhein-Westfalen entfernt, nach wie vor nicht fassen. „Wir standen zum ersten Mal nicht am Straßenrand, sondern verfolgten den Zug von der Apotheke aus“, sagt er.
Direkt gegenüber seinem Verkaufsladen mit Auto-Schalter haben die Spurenermittler der Polizei mit gelber Schrift Markierungen auf der Straße „Steinweg“ und dem Bürgersteig angebracht. Sie weisen darauf hin, wo der Mercedes des 29 Jahre alten Volkmarsers in die Zuschauermenge raste und Passanten erfasste, die sich voller Freude die Motivwagen anschauen und immer wieder den traditionellen Karnevalsruf der heimischen Jecken „Schurri“ anstimmen wollten. „Es ist ein riesiger Schock“, sagt Apotheker Böttrich, „ein schwarzer Tag für Volkmarsen.“
Verletztenzahl auf fast 60 angestiegen
100 Meter vom Tatort entfernt gibt Polizeisprecher Henning Hinn am späten Vormittag eine improvisierte Pressekonferenz und zieht eine Bilanz des Schreckens: 52 Verletzte, darunter 18 Kinder. 35 Menschen müssen noch stationär behandelt werden. Später erhöht die Polizei die Zahl der Verletzten auf fast 60. Der 29 Jahre alte Pkw-Fahrer – beim Vorfall nicht alkoholisiert – konnte noch nicht vernommen werden, über sein Motiv ist noch nichts bekannt, so Hinn. Eine weitere Person wurde vorläufig festgenommen, sie soll am Tatort ein „Gaffer-Video“ gedreht haben.
Auch interessant
Derweil steht auf dem Parkplatz neben der Zufahrt zum „Drive-In“-Apotheken-Schalter ein Motivwagen, der just in dem Moment die Unglücksstelle passierte, als der silberne Pkw des jungen Nordhessen mit Schwung in den Steinweg fuhr.
Der Wagen zeigt Figuren der Sesamstraße und stellt mit großen Lettern unfreiwillig die Frage, die am Tag nach den schrecklichen Ereignissen die Menschen beschäftigt: „Wieso, weshalb, warum?“ In einer Art Tonne in der Mitte des Wagens, erzählt Böttrich, habe ein Karnevalist im Kostüm von „Oskar“ gestanden. „Auch wenn er aus dem Wagen geflogen ist, hat ihm dieser Platz womöglich etwas Schutz beim Aufprall des Autos geboten und das Leben gerettet.“
Bilder gehen nicht mehr aus dem Kopf
Böttrichs Apotheke hat am traurigen Veilchendienstag zwar geöffnet, aber alles dreht sich um das abrupte Ende des Karnevals in Volkmarsen, das einst zum Herzogtum Westfalen gehörte und in dessen katholischer Tradition im evangelisch-geprägten Nordhessen zur anerkannten Karnevals-Hochburg aufgestiegen ist.
Auch interessant
40 Personen hielten sich am Rosenmontag nach dem „unglaublichen Ereignis“ zeitweise in der Apotheke auf, so Böttrich: „Wir haben einfach nur geholfen, waren eine erste Anlaufstelle in diesem grauenhaften Chaos.“ Zwei Mitarbeiterinnen hätten sich am Dienstag Morgen abgemeldet. „Ihnen gehen die Bilder von durch die Luft fliegenden Menschen nicht mehr aus dem Kopf.“
„Diese Bilder wird man nicht mehr los“, sagt Kai Michael Scheiding, „sie sind nun Teil der eigenen Geschichte.“ Der Pfarrer aus der evangelischen Nachbargemeinde Ehringen ist am Dienstagmittag als Notfallseelsorger auf dem Weg zur Unglücksstelle und will wie am Tag zuvor Verletzten und Augenzeugen dabei helfen, „die Eindrücke zu ordnen“.
Auch interessant
Um zu erreichen, dass das Erlebte irgendwann in den Hintergrund tritt, sei es wichtig, sich damit auseinanderzusetzen: „Das Reden darüber hilft einem“, sagt Scheiding, „vielleicht sogar das Wiederaufsuchen des Ortes. Jeder Mensch hat da seine eigenen Mechanismen.“
Tatort wieder für die Öffentlichkeit freigegeben
Die Stellen in der Umgebung der Burg-Apotheke und des Rewe-Marktes, an denen Menschen von dem Mercedes erfasst wurden, sind am Dienstagmittag gereinigt, der Tatort ist für die Öffentlichkeit wieder freigegeben. Das Leben soll irgendwie weitergehen in Volkmarsen. Doch die 7000-Einwohner-Kleinstadt im Waldecker Land ist am Tag danach in einer Art Schockstarre, es herrscht lähmendes Entsetzen.
Auch interessant
Kaum ein Einwohner ist auf den Straßen zu sehen, nur die Karnevals-Dekoration in den Schaufenstern der Geschäfte und die Konfetti-Reste zwischen den Kopfsteinpflastern erinnern daran, dass hier die fünfte Jahreszeit gefeiert wurde. „Der Karneval in Volkmarsen wird sich verändern“, sagt Pfarrer Scheiding, „bei künftigen Rosenmontagsumzügen fährt die Erinnerung an dieses tragische Ereignis mit.“