Berlin/Brilon. Vor dem Hintergrund der veränderten Sicherheitslage in Europa fordern die Reservisten der Bundeswehr mehr Anerkennung in der Gesellschaft.
Spätestens seit der Krim-Invasion Russlands rücke die Bündnis- und Landesverteidigung wieder mehr in den Blickpunkt, sagte Patrick Sensburg, neuer Präsident des Verbandes der Reservisten der Deutschen Bundeswehr, dieser Zeitung. „Die ureigenste Aufgabe eines jeden Staates ist es, das eigene Territorium und die eigene Integrität zu sichern. Dafür brauchen wir die Reserve. Ohne sie geht es nicht“, sagte der 46-jährige CDU-Bundestagsabgeordnete aus Brilon.
Sensburg, Oberstleutnant der Reserve, wurde Ende 2019 zum neuen Chef des Reservistenverbandes gewählt. Der Verband hat 115.000 Mitglieder. Insgesamt gibt es in Deutschland etwa eine Million Reservisten.
Ruf nach Landesregiment
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Der Sauerländer warb für die Einrichtung eines Landesregiments in NRW. Bayern hat ein solches Regiment im vergangenen Jahr als erstes Bundesland in Dienst gestellt. Bis zu 500 Reservisten übernehmen dort unter anderem Sicherungsaufgaben, den Schutz militärischer und ziviler Einrichtungen und Hilfe im Katastrophenfall.
Die Landesregierung hat sich in dieser Frage bisher nicht festgelegt. Sie verfolge die Pilotphase in Bayern „mit Interesse“, teilte ein Sprecher auf Anfrage mit. Zunächst müssten die Ergebnisse des Projekts abgewartet werden. Gleichwohl stehe die Landesregierung voll hinter der Bundeswehr und ihrer Reserve. Sie sei „eine der größten ehrenamtlichen Initiativen des Landes“.
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Sensburg sprach sich deutlich gegen rechtsextremistische Tendenzen in der Bundeswehr und bei den Reservisten aus: „Wir brauchen keine Rambo-Typen, wir brauchen keine Rechtsradikalen, wir brauchen keine Reichsbürger.“ Er wolle zukünftig intensiver mit den staatlichen Behörden zusammenarbeiten, um Extremisten frühzeitig ermitteln zu können.
Mehr Frauen in Reservistenverband
Zudem kündigte er eine Initiative an, mit der mehr Frauen für den Reservistenverband gewonnen werden sollen. „Wir haben viel zu wenige Frauen“, sagte er. Das Präsidium sei derzeit ausschließlich mit Männern besetzt. „Ich will das ändern.“
Sensburg plädierte für die Wiedereinsetzung der Wehrpflicht. „Wir müssen für den Fall des Falles gewappnet sein. Ich weiß nicht, wie in 30 Jahren die weltpolitischen Machtkräfte verteilt sein werden. Wenn wir aber die nötigen Strukturen nicht vorhalten, werden wir in 40 Jahren garantiert nicht die Fähigkeit haben, das eigene Land zu verteidigen“, sagte er.
Das komplette Sensburg-Interview:
Die Sicherheitslage hat sich weltweit verändert, spätestens seit der Krim-Invasion Russlands rückt die Bedrohung näher an Europa heran. Welche Rolle spielt der Reservistenverband dabei?
Patrick Sensburg: Weil die Bündnis- und Landesverteidigung jetzt wieder mehr in den Blickpunkt rückt, spielen Reservisten im Auftragsspektrum der Bundeswehr wieder eine noch bedeutendere Rolle. Jahrzehntelang herrschte die Einstellung: Die Sicherheit Deutschlands wird am Hindukusch verteidigt. Unser Ziel war es, weit außerhalb Europas den Frieden zu sichern, weil um uns herum alles so friedlich, beinahe paradiesisch wirkte. Das hat sich spätestens seit der Krim-Invasion dramatisch geändert. Ich habe Verständnis für die baltischen Staaten, die sich in ihrer Souveränität bedroht fühlen. Die Sicherheit Deutschlands und Europas wird also auch in Deutschland und in den Grenzen der EU verteidigt. Die ureigenste Aufgabe eines jeden Staates ist es, das eigene Territorium, die eigene Integrität zu sichern. Dafür brauchen wir die Reserve. Ohne sie geht es nicht!
Ist die Reserve denn fit genug?
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Die Bedrohungslagen sind nicht mehr so klar definiert wie früher, deshalb sind die Vorkehrungen, die wir treffen müssen, natürlich auch vielschichtiger. Denken Sie nur an das Beispiel von Cyber-Gefahren. Die Grenzen von innerer und äußerer Sicherheit verschwimmen. Deshalb versuchen wir, aus diesem Bereich Kräfte für die Reserve und auch für die Bundeswehr zu rekrutieren. Wir brauchen aber auch ein anderes Ansehen in der Gesellschaft. Seit der Aussetzung der Wehrpflicht sind aktive Soldaten und Reservisten aus der öffentlichen Wahrnehmung weitgehend verschwunden. Wir müssen also neue Strukturen aufbauen und brauchen dafür Akzeptanz in der Bevölkerung. Die Bundeswehr insgesamt muss wieder mehr in der Öffentlichkeit präsent sein. Dies zu unterstützen ist auch eine Aufgabe des Verbandes.
Was meinen Sie konkret?
In Bayern wurde vor kurzem das erste Landesregiment in Dienst gestellt, damit die Reserve Landes- und Bündnisverteidigung besser leisten kann. Ich habe den Eindruck, dass andere Bundesländer bei diesem Thema in den Startlöchern stehen. Ich höre dies aus Niedersachsen, Hessen und NRW. Wir wollen zunächst die Erfahrungen aus Bayern auswerten. Die Strukturen müssen auch mit Menschen und Material befüllt werden. Aber ich freue mich, wenn der politische Wille da ist, den Weg der Landesregimenter weiter zu gehen. Besonders über ein Landesregiment in NRW würde ich mich natürlich sehr freuen.
Würde das auch der Akzeptanz bei der Bevölkerung helfen?
Auf jeden Fall. Die Distanz zwischen Gesellschaft und Bundeswehr ist in den vergangenen Jahrzehnten gestiegen. Ich werde im Zug gefragt: Was tragen Sie denn da für eine Uniform? Manchmal rufen Bürger sogar die Polizei, wenn sie Uniformierte bei Übungen oder Märschen sehen. Deshalb organisieren wir als Reserve viele unterschiedliche Veranstaltungen. Wir sind Mittler zwischen Bundeswehr und Gesellschaft. Mit den Landesregimentern würde eine lokale, regionale Verortung entstehen.
Muss die Wehrpflicht wieder eingeführt werden?
Ich war damals gegen die Aussetzung, weil ich die Entscheidung für sehr kurzsichtig halte. Man reduziert auch nicht die Zahl der Feuerwehrleute, weil es länger nicht gebrannt hat. Wir brauchen eine verteidigungs- und sicherheitspolitische Analyse, die folgende Frage beantworten muss: Können wir ohne Wehrpflicht Landes- und Bündnisverteidigung und die Auslandseinsätze wirklich leisten? Anschließend können wir festlegen, ob wir dieses Ziel mit einer Berufsarmee erreichen oder ob wir die Wehrpflicht gerade für die Landes- und Bündnisverteidigung eben doch benötigen.
Wir brauchen die Wehrpflicht
Und was glauben Sie persönlich?
Wir brauchen die Wehrpflicht. Wir müssen für den Fall des Falles gewappnet sein. Ich weiß nicht, wie in 30 Jahren die weltpolitischen Machtkräfte verteilt sein werden. Wenn wir aber die nötigen Strukturen nicht vorhalten, werden wir in 40 Jahren garantiert nicht die Fähigkeit haben, das eigene Land zu verteidigen.
Das Verteidigungsministerium hat kürzlich Zahlen über Soldaten mit rechtsextremistischem Bezug vorgelegt. Demnach sind 200 Offiziere rechtsradikal.
Das ist ein ernstes Thema. Jeder Fall ist einer zu viel, sowohl bei Aktiven der Bundeswehr als auch bei der Reserve. Ich will die Problematik nicht kleinreden, aber wir haben fast 40.000 Offiziere in der Bundeswehr, also sprechen wir von 0,5 Prozent. Aber wir sind bei diesem Problem sehr sensibel. Jeder Bewerber wird überprüft. Die Bundeswehr ist für Rechte sicherlich attraktiver als der BUND oder der Nabu. Wir brauchen jedoch keine Rambo-Typen und wir brauchen keine Rechtsradikalen und Reichsbürger. Wir betreiben einen hohen Aufwand, um diese Menschen fernzuhalten. Ich möchte im Reservistenverband deshalb noch intensiver mit unseren staatlichen Behörden zusammenarbeiten. Für mich ist der Bürger in Uniform auch Demokrat in Uniform. Die Soldaten schützen unsere Demokratie und unsere Gesellschaft, unsere Werte, unsere Heimat, unsere Freiheit, unsere Grundrechte. Wer Reservist ist, muss für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung einstehen. Dafür riskiert er sein Leben. Wer das nicht versteht, der ist in der Reserve falsch.
„Freistellung lohnt sich auch für Arbeitgeber“
Viele Reservisten sind darauf angewiesen, dass ihre Arbeitgeber sie freistellen. Wird das schwieriger?
Auf jeden Fall. Deshalb betonen wir den Mehrwert, den der Einsatz bei der Reserve auch den Arbeitgebern bringt: Reservisten denken sehr gut in Strukturen, sie erlangen sehr frühzeitig Führungskompetenzen. Wir vergeben deshalb auch Zeugnisse über Lehrgänge und Schulungen, die in der Privatwirtschaft anerkannt sind. Es hat sich viel getan.
Die Invictus Games für Kriegsveteranen kommen 2022 zum ersten Mal nach Deutschland.
Das ist eine wunderbare Sache, denn bei diesem Anlass können Soldaten, die versehrt sind, zeigen, dass sie mitten im Leben und in der Gesellschaft stehen. Wir haben in Deutschland kaum noch Erfahrungen damit, wie man mit Versehrten umgeht. Die Invictus Games bieten eine gute Gelegenheit, darüber zu diskutieren.
Bei Ihren Treffen sieht man meist nur Männer.
Das ist tatsächlich ein Problem. Der Anteil der Frauen im Reservistenverband beträgt aktuell 3,8 Prozent, vor sechs Jahren war es noch die Hälfte. Wir haben viel zu wenige Frauen in unserem Verband. Im Präsidium sitzt derzeit nicht eine einzige Frau. Ich will das ändern. Es ist nicht nachvollziehbar, dass wir seit Jahren Frauen in der Bundeswehr und auch viele Reservistinnen haben, aber in den Funktionen stellt sich das nicht dar. Wir brauchen mehr Frauen, die sich engagieren. Der Anteil der Frauen in der Bundeswehr liegt bei etwa 12 Prozent; wir wollen da als Verband Schritt für Schritt nachziehen und so muss es auch sein.