Hagen/Saarbrücken. Betrügerbande um einen Sauerländer (56) soll Online-Kunden in großem Stil abgezockt haben. Mögliche Schadenssumme: Hunderte Millionen Euro.

Eigentlich sollte die Lebensversicherung für die Altersvorsorge sein. Als sie ausgezahlt wurde, las sich die Anzeige im Internet schon sehr verlockend: in kurzer Zeit hohe Gewinne bei niedrigem Geldeinsatz. „Berater“ am Telefon bestärkten den Interessenten in dem „todsicheren Anlage-Tipp“. Er investierte auf Trading-Plattformen, wettete dort auf Aktienkurse, Währungsschwankungen oder andere Finanzgeschäfte. Am Ende hatte der Anleger sein gesamtes Hab und Gut verloren. Ein Schicksal von vielen, wie die Staatsanwaltschaft Saarbrücken weiß. Sie ermittelt in einem Onlinebetrugsverfahren großen Ausmaßes im deutschsprachigen Raum. Mögliche Schadenssumme: Hunderte Millionen Euro. Der Kopf der Betrügerbande soll der Sauerländer L. (56) sein. Anwalt Ralf Buerger aus Hagen vertritt Betrugsopfer.

Wie liefen die „Geschäfte“ ab?

L., aufgewachsen in Altena, soll der Betreiber der Trading-Portale „Option888“, „TradeInvest90“, „XMarkets.com“, „Zoom Trader“ und „TradoVest“ gewesen sein, so die ermittelnde Staatsanwältin Victoria Hänel. Er sitzt seit Oktober 2019 – nach seiner Auslieferung aus Österreich – in Saarbrücken in Untersuchungshaft. Die Bande soll Anzeigen in einem Werbenetzwerk im Internet geschaltet haben. Wer sich meldete, gelangte in ein Callcenter und wurde fortan immer wieder von „psychologisch sehr geschickt agierenden Brokern“ (Beratern) telefonisch oder per Chat kontaktiert. Wenn Anleger wünschten, die Rendite ihres Depots ausgezahlt zu bekommen, wurden sie vertröstet bzw. es wurde ihnen von den Beratern ausgeredet. Nach einem inszenierten Totalverlust des eingezahlten Geldes, so die Ermittler, animierten sie ihre Kunden zu neuen Einzahlungen – um angebliche Verluste auszugleichen. Wurden Anleger allzu misstrauisch, war der Account nicht mehr zugänglich oder der Broker nicht mehr erreichbar.

Ein „extrem hoher Prozentsatz der Anleger“, so Victoria Hänel, dürfte das gesamte Geld verloren haben. Mutmaßlich buchten die Betrüger das Anlagekapital auf eigene Konten um : „Sie hatten ein weltweit verzweigtes Geflecht aus Tarn- und Scheinfirmen aufgebaut, um die Wege der Gelder zu verschleiern.“ Sozusagen Geldwäsche in Reinform.

Wie viele wurden geschädigt?

Die Ermittler haben bislang drei der fünf Trading-Plattformen ausgewertet. „Auf ihnen waren 120.000 Menschen registriert“, sagt Victoria Hänel, „im Schnitt wurden 50.000 Euro angelegt.“ Ein Anleger soll um 1,5 Millionen Euro geprellt worden sein. Derzeit seien erst 260 Fälle aktenkundig, die Schadenssumme beläuft sich hier bereits auf 16 Millionen Euro. Ein Wirtschaftskrimi also mit riesigen Dimensionen.

Wer legte Geld an und warum?

„Es waren vornehmlich Anleger ab einem mittleren Alter“, so Victoria Hänel. Die Online-Geschäfte hätten eher Menschen gemacht, die nicht sehr internet-affin gewesen seien. „Sie wiegten sich in Sicherheit, weil sie von ,Beratern’ am Telefon persönlich betreut wurden.“ Nach Darstellung des Hagener Opfer-Anwalts Ralf Buerger sind es oft „Laien“, die ihr Geld bei Banken angelegt und sich über niedrige Zinsen geärgert haben: „Sie sind empfänglich für Versprechungen hoher Renditen und lancierter positiver Bewertungen im Internet und lassen sich von Beratern mit großem Provisionsinteresse überreden.“ Häufig seien Abfindungen, Lebensversicherungen oder Bausparverträge zum vermeintlichen Vermehren des Vermögens genutzt worden. „Es gab auch Fälle, in denen Kredite aufgenommen wurden“, so Buerger, der eine Interessengemeinschaft für Opfer von Trading-Plattformen gegründet hat.

Hätten die Anleger nichtmisstrauisch werden müssen?

„Es sind Blauäugigkeit, Geldgier, Suchtverhalten und eine gewisse Dummheit im Spiel“, sagt Ralf Buerger. „Ein Blick in das Impressum von Trading-Plattformen hätte genügt: Es fehlten Namen oder man las etwa Adressen auf den Cayman Islands.“

Was weiß man über L.?

L., so Staatsanwältin Hänel, betrieb auch Online-Wett-Portale. Er soll Mitte der 90er Jahre eines der ersten Internet-Casinos gegründet haben und später an Poker-Plattformen beteiligt gewesen sein. Zeitweise lebte L. an der Côte d’Azur und in einem österreichischen Hotel. Auf der Facebook-Seite eines 5-Sterne-Superior-Hotels sind Bilder von L. als Mitglied eines hoteleigenen Teams bei einem Volksskirennen für ambitionierte Fahrer zu sehen.

Seit seiner Auslieferung, so Victoria Hänel, habe sich L. noch nicht zu den Vorwürfen geäußert – „aber zuvor bei den Kollegen in Österreich“. Ermittler gehen davon aus, dass der 56-Jährige mindestens vier Komplizen hatte. Eine Düsseldorfer Anwaltskanzlei, die L. vertritt, antwortete nicht auf Fragen dieser Zeitung.

Wie weit sind die Ermittlungen?

Die Staatsanwaltschaft Saarbrücken bearbeitet das Sammelverfahren für den deutschsprachigen Raum. „Wir sind mitten in der Auswertung“, sagt Victoria Hänel, „eine Prognose zum Abschluss der Ermittlungen kann ich nicht abgeben.“ Sie geht davon aus, dass sich noch weitere Geprellte bei ihrer Behörde melden. „Es gibt bestimmt Anleger, die noch nicht wissen, dass sie betrogen wurden.“ Oft hielten sich Opfer zurück, so Ralf Buerger, „aus Scham vor der eigenen Leichtsinnigkeit“.

Was müsste der Gesetzgeber tun?

Opfer-Anwalt Ralf Buerger fragt sich, ob nicht die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) „frühzeitige und deutliche Warnhinweise“ auf Trading-Portale herausgeben müsse. Und: „Wer kümmert sich eigentlich um Finanzdienstleister, bei denen Betrüger offenbar problemlos verbotene Geldtransfers vornehmen können?“

Die fünf Trading-Plattformen von L. existieren nicht mehr, die Betrugsmasche aber noch. Verschwinde eine Plattform, öffne sich die nächste unter einem anderen Namen, so Buerger. Nach seiner Ansicht müsste der Gesetzgeber grundsätzlich solche Finanzgeschäfte für Verbraucher im Internet verbieten: „Geschäfte, die ganz einfach online zu erledigen sind, bei denen es keine Verträge gibt und Kunden ihren Vertragspartner nicht kennen.“