Hagen/Siegen. Zukunftsforscher Bruno Gransche von der Universität Siegen im Interview über die Möglichkeiten von IT-Systemen, Vorhersagen zu treffen.

Erlaubt die statistische Analyse großer Datenmengen mittels Computer (Big Data) einen Blick in die Zukunft? Jede Kreditkarten- Nutzung, der Gebrauch des Smartphones, die Fahrt mit Hilfe des Navigationsgeräts oder die smarte Fitness-Uhr hinterlassen digitale Spuren. Programme berechnen, was wir kaufen, wie wir wählen, welche Lektüre wir bevorzugen. All diese Daten werden in immer größerem Ausmaß von Suchmaschinen und sozialen Netzwerken gesammelt. Daten, die unsere Vorlieben, unser Verhalten und unsere Routinen widerspiegeln. Ob dadurch Vorhersagen möglich sind und wie gefährlich das für uns ist, darüber hat sich diese Zeitung mit dem Zukunftsforscher Dr. Bruno Gransche von der Uni Siegen unterhalten.

Warum sind die Menschen fasziniert, die Zukunft vorauszusagen? Und sind wir im digitalen Zeitalter der Erfüllung dieses Wunsches näher gekommen?
Bruno Gransche:
Ja und nein. Nein, weil Zukunft prinzipiell nicht vorhersehbar ist. Gewissermaßen aber ja, wenn Individuen zu einer Entscheidung gedrängt werden und ihr Handeln so manipuliert wird, dass sie etwas Vorausgesagtes tun. Je glaubhafter Big-Data-Systeme auftreten, umso mehr Menschen orientieren sich daran. Im antiken Griechenland beeinflusste der Orakel-Spruch von Delphi das Handeln der Menschen. Bekannt sind die selbsterfüllenden Prophezeiungen, bei denen die Voraussage ihr eigenes Eintreten bewirkt. Delphi wird nun von Big Data ersetzt. Wer viele Daten über ein Individuum hat, kann auch viel Information über das Individuum erzeugen und es dann geschickt beeinflussen. Das macht Menschenmassen berechenbarer und Individuen beeinflussbarer. In diesem Sinne kann man von Vorhersagen sprechen. Waren sie in den vergangenen Jahrhunderten wie Würfeln, sind die Trefferquoten durch technische Entscheidungsunterstützungen, durch zugeschnittene Handlungsbeeinflussung, wahrscheinlicher geworden.

Ist der aktuelle Fokus auf Big Data gerechtfertigt?
Vorweg: Im prinzipiellen Sinne kann auch Big Data nichts vorhersagen. Denn entweder geben wir die Idee des freien Willens auf oder die Idee, dass Zukunft vorhersehbar ist. Beides zusammen geht nicht. Aber Big Data kann schon viel mehr, als zurzeit verbreitet diskutiert wird. Es gibt IT-Systeme, die Entscheidungen datenbasiert orientieren. Je größer die Zahlenmenge dabei ist, desto weniger fällt der freie Wille des Individuums ins Gewicht. So ist die Vorhersage bei einer Masse einfacher als bei Einzelnen. Ein fiktives Beispiel: Männer zwischen 30 und 40, die in einem Industrieland leben und Netflix abonniert haben, mögen meist Star-Wars-Filme. Solche statistischen Zusammenhänge können dann strategisch genutzt werden. Wie Mehrheiten manipuliert werden können, sieht man am Cambridge-Analytica-Skandal. Mit der illegalen Auswertung von Millionen Facebook-Profilen hat die Firma die Wahl von Donald Trump beeinflusst.

Stichwort Big Brother: Ist die Skepsis berechtigt?
Absolut. Speziell in Deutschland ist sie groß. Das ist historisch erklärbar durch die Erfahrungen, die man in totalitären Systemen im 20. Jahrhundert gemacht hat. Facebook, Alibaba, Google und Co. zum Beispiel sind nicht demokratisch. Sie lassen sich nicht entsprechend kontrollieren. Es kann nicht sein, dass sie über bessere Informationen und damit über Macht über Menschen verfügen, als staatliche Institutionen wie Geheimdienste, die immerhin demokratisch legitimiert sind und letztlich Kontrollausschüssen Rede und Antwort stehen müssen. Facebook, Google und Co. hätten meines Erachtens die Macht, Regierungen zu stürzen. Sie nutzen Spielräume von Wirtschaftssystemen natürlich für ihren Vorteil aus. Es ist an der Politik, diese Spielräume im Sinne der Verfassung und Grundwerte restriktiver zu begrenzen. Es ist hoch kritisch, dass Google sämtliche Forscher künstlicher Intelligenz aufkauft. Mit diesem Knowhow und enormen technischen und wirtschaftlichen Ressourcen können sie die Beeinflussung von Massen ungehindert perfektionieren. Das birgt totalitäre Potenziale. Um sie kontrollieren zu können, müsste man sie aber erst einmal verstehen. Dazu braucht man wiederum eigenes Spitzen-Knowhow.

Was kann man Positives über Big Data sagen?
Hilfreich sind große Datenmengen zum Beispiel, um Epidemien einzudämmen. Mit entsprechenden Computersimulationen können mögliche Ausbreitungen vorhergesagt und somit entsprechend reagiert werden. Datenbasierte Simulationen sind besser als bloßes Mutmaßen. Auch im Medizin- und im Sicherheitsbereich kann es sehr dienlich sein.

Sie gehen davon aus, dass Lebenswelten durch Datenschatten beeinflusst werden und sprechen von Gravitation, die die Wahrnehmung und Entscheidungen von Menschen lenken kann. Können Sie das erklären?
Wir haben meist keinen festen prinzipientreuen Willen, sondern Bedürfnisse können auch hergestellt werden. Wir sind in der Willensbildung formbar, offen für Vorschläge. Das merken Sie an sich selbst, wenn Sie z. B. dem Klima zuliebe nachhaltiger Leben wollen, aber dennoch Kaufentscheidungen treffen, die dem entgegenstehen. Der Musik-Streaming-Dienst Spotify kann das sehr gut. Er verwertet personenbezogene Echtzeiteinblicke, Stimmungen, Einstellungen, Vorlieben und Verhaltensweisen der Hörer. Spotify wirbt damit, dass sie immer öfter durch die Datenmengen auch Rückschlüsse auf das Offline-Verhalten ihrer Nutzer ziehen können. Zum Beispiel, dass junge Single-Mütter Fast Food konsumieren. Das öffnet Manipulation Tür und Tor. Dabei hilft: Menschen haben großes Interesse daran, zu wissen, wer sie selbst sind. Sobald jemand meint, dass IT-Systeme mehr über sie wissen, als sie selbst, sind Vorhersagen tatsächlich besser möglich – und zwar quasi per Fernsteuerung. Wenn auf Facebook und Co. einem ständig die Zuschreibung begegnet, man sei kontaktfreudig und Spotify uns sagt „Du bist abenteuerlustig!“, dann glaubt es am Ende auch der Introvertierte. Unsere Wahrnehmung der Welt, von anderen Menschen und von uns selbst ist immer mehr durch IT-Systeme vermittelt; und diese Vermittlung lässt sich gezielt gestalten.

Sie sprechen lieber vom Datenschatten statt digitalem Fußabdruck. Was ist der Unterschied?
Beides sind Metaphern. Datenschatten meint die Gesamtheit aller mit einem Individuum in Verbindung stehender digitaler Daten. Bildlich gesehen bleibt ein Fußabdruck in Form und Größe gleich. Der Schatten verzerrt sich je nach Lichteinfall. Abends werfen selbst Zwerge riesige Schatten. Er kann dem Individuum aber auch sehr nahekommen. Dadurch können Vorschläge, die aufgrund des Datenschattens errechnet wurden, glaubhafter erscheinen und eher angenommen werden. So werden Beeinflussungen unseres Verhaltens einfacher.

Wie arbeiten IT-Systeme, um Handeln zu steuern und somit Vorhersagen zu ermöglichen?
Intelligente Systeme bilden Trampelpfade, um die Wahrscheinlichkeit von Vorhersagen zu erhöhen. Wenn Millionen einer Datenspur gefolgt sind, wird es für die Neuen schwerer, diesen Weg zu verlassen. Man meidet meist die Anstrengung, viele Entscheidungen selbst zu treffen, um an ein Ziel zu gelangen. Auf einem Trampelpfad läuft man einfacher als im Gestrüpp, aber man muss da laufen, wo die Vorgängen liefen. Ein digitales Beispiel sind die Top-Ten bei YouTube oder die „Kunden kauften auch“ Funktion bei Amazon. Mainstream als Manipulationsgrundlage. Wächst das Vertrauen in ein System, wächst die Möglichkeit der Beeinflussung und somit die Wahrscheinlichkeit, das etwas Vorhergesagtes eintrifft. Damit arbeiten z. B. Face-Morphing-Algorithmen: In Echtzeit können Werbe-Models nach dem Ebenbild des Nutzers angepasst, Augen Mund, etc. verändert werden, sodass sie uns ähneln, nur eben attraktiver. Das wäre quasi eine James-Bond-Variante von einem selbst. Man traut eher Menschen, die einem ähnlich sehen, und glaubt den Botschaften eher, die so transportiert werden.

Kennen Sie ein außergewöhnliches Beispiel, wo die Auswertung großer Datenmengen zu schnellem Handeln gezwungen hat?
An der Börse ist dies ständig der Fall. Oder z. B. die Strava-Sache, als in Afghanistan oder Syrien stationierte Soldaten mit Fitnestrackern ausgestattet wurden. Die Soldaten joggten jeden Tag. Anhand der Spur ihrer GPS-Daten, die als Joggingroute auf der globalen Strava-Website angezeigt wird, war es jedem möglich, Lage und Größe von teils geheimen Anlagen zu bestimmen, um die gejoggt wurde.

Ist der Daten-Wissenschaftler der zurzeit gefragteste Beruf?
Es ist eine gefragte Expertise. Solche Data-Scientists sind aber immer nur so gut, wie die Ressourcen und Möglichkeiten, große Datenmengen zu bekommen und zu verarbeiten. Das heißt: Nur wenige können sich die besten Data-Scientists und teure Hochleistungsrechenzentren und Zugang zu riesen Datenmengen leisten. Daraus ergibt sich Machtkonzentration der IT-Riesen, die kritisch zu hinterfragen ist.

Gibt es warnende Beispiele, wie Big Data missbraucht werden kann?
Da fällt mir China ein, auch wenn verlässliche Informationen hier schwer zu bekommen und Fakten schwer zu prüfen sind. Die Staatsmacht scheint Big Data Anwendungen skrupelloser einzusetzen als z. B. Europa. Mit den gesammelten Daten aus allen Lebensbereichen bis hin zur Gesichtserkennung an der Fußgängerampel können Abweichler identifiziert und zu Handlungen gezwungen werden – für ein vermeintlich besseres Leben. Das Handeln vieler wird somit voraussagbarer, weil jeder Sanktionen vermeiden will. Der sogenannte Social Score beeinflusst die Bevölkerung Chinas. Auch bei uns gibt es solche Algorithmen, zum Beispiel um die Kreditwürdigkeit zu beurteilen. Die Algorithmen, die in China für den Social Score angewendet werden, unterscheiden sich nicht prinzipiell von denen des Schufa-Scores hierzulande. Ein und dieselbe Technik kann Kredite für ein Eigenheim oder die Internierung in Umerziehungslager ermöglichen. Die Entwicklungen in China sollten uns aufrütteln, politisch, aber auch in unserem privaten Umgang mit Daten.

Was müssen wir tun, um in Zukunft noch eine Wahl zu haben?
Auf alle Fälle muss die Medienkompetenz gesteigert werden. Das Bewusstsein, wie solche IT-Systeme grundlegend funktionieren und Entscheidungen beeinflussen, muss erweitert werden. Es muss nicht jeder programmieren können, aber Grundprinzipien der Data Economy müssen verstanden werden können. Möglichst bereits in den Schulen. Wir haben mit Blick auf die sich rasant weiter entwickelnde Technik und deren nicht-technischen Herausforderungen einen klaren Bildungsauftrag. Wir brauchen aber ebenso bessere Institutionen, die digitale Souveränität gewährleisten und schützen. Natürlich muss niemand vor einer Bahnfahrt selbst die Bremsen eines ICE prüfen können, sondern wir vertrauen auf Institutionen wie den TÜV. Ebenso sollte die Prüfung der Rechtskonformität einer App nicht dem Individuum zugemutet werden. Individuelle Medienkompetenz und institutionelle Marktkontrolle und Verbraucherschutz müssen Hand in Hand gehen.

Wie gehen Sie mit der Preisgabe ihrer Daten im Netz um?
Persönlich komme ich im Netz kaum vor. Und Facebook, WhatsApp­ und Co bleiben in unserer Familie außen vor. Das kann dazu führen, dass wir die einzigen sind, die nicht mitbekommen, das die Kindersportstunde – nämlich über WhattsApp – abgesagt wurde, aber das nehme ich in Kauf. Das sind strafende Netzwerkeffekte. Aber wenn Sie mich googeln, finden Sie mich. Insofern bin auch ich – oder eben einige digitalisierbare Aspekte von mir – Objekt von Datenriesen. Ohne Bankkonto und IT-Konten für Email, das Uni-Rechenzentrum etc. könnte ich nicht arbeiten. Nutzen und Teilhabe müssen da stets gegen die Risiken abgewogen werden und – wie überall im Leben – Kompromisse gefunden werden.