Der Bericht eines Sozialverbandes weist aus, dass Armut ein drängendes Problem vor allem in NRW ist. Ein Betroffener aus Hagen berichtet.
Hagen. Die Haut an der Stirn ist trocken, die obere Zahnreihe hat so ihre Lücken. „Ich hätte mir auch nicht denken können, dass ich mal hier ende“, sagt Heinz-Jürgen. Der Mann ist 63 Jahre alt, seit einigen Jahren kommt er fast täglich in die Suppenküche in Hagen. Heute gibt’s Grünkohl. In der Ecke steht ein Tannenbaum. Als die Suppenküche 1997 erstmals öffnete, wurden 25 Mahlzeiten gekocht. Heutzutage sind es manchmal 450 am Tag.
Heinz-Jürgen meint seinen Satz nicht böse oder geringschätzig. Er ist ja froh, dass es das Angebot gibt. Aber er hatte anderes im Sinn für sich und sein Leben. Vor zehn Jahren, sagt er, habe die Firma, in der arbeitete, zugemacht. Branche: Straßenbau. Heinz-Jürgen ist Baggerfahrer. Der Job war weg. Einen neuen fand er nicht. Hartz IV. Die Ehe ging darüber in die Brüche. Nun sitzt er hier. „Ich konnte mir früher viele Sachen leisten“, sagt er. Nun kommt er für ein Mittagessen. „Das Gefühl, arm zu sein, ist kein schönes.“
Anstieg um 20 Prozent in zehn Jahren
Es ist ein Gefühl, dass viele Menschen in Deutschland und vor allem in Nordrhein-Westfalen kennen oder zumindest fürchten müssen. Der Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, der am Donnerstag vorgestellt wurde, stellt das in deutlicher Weise heraus. Besonders betroffen ist das Ruhrgebiet, zu dem Hagen, der Märkische Kreis und der Ennepe-Ruhr-Kreis ebenfalls gezählt werden. Aber auch die von den Berichterstattern zu Raumordnungsregionen zusammengefassten Kreise Soest/Hochsauerland bzw. Siegen-Wittgenstein/Olpe weisen einen Anstieg der Armutsquote um 20 Prozent in den vergangenen zehn Jahren auf (2008 bis 2018).
Die Verfasser des Berichts haben Siegen-Wittgenstein/Olpe der Kategorie „Die Abgestiegenen“ zugeordnet. Nach einer schlechten Entwicklung in den vergangenen zehn Jahren „leben nun mehr Menschen unterhalb der Armutsgrenze als dies im Bundesdurchschnitt der Fall ist“. In der Kreisverwaltung hat man diese Einstufung überrascht aufgenommen. „Uns sind keine offensichtlichen Gründe bekannt, die diese Entwicklung begünstigt haben könnten“, sagt Sprecher Torsten Manges und verweist darauf, dass die Armutsquote in seiner Region nach wie vor deutlich unter dem Landesschnitt liege. Die wirtschaftliche Entwicklung in den vergangenen zehn Jahren sei „eher gut“ gewesen: „In der Region gab es noch nie so viele sozialversicherungspflichtig Beschäftigte wie heute: im Arbeitsamtsbezirk Siegen-Wittgenstein/Olpe rund 178.000 – knapp 25 Prozent mehr als 1980.“
Arme Menschen „fühlen sich ausgegrenzt“
Kerstin Weitemeier hat täglich mit Menschen zu tun, die in die Armut geraten sind. „Sie fühlen sich ausgegrenzt und nehmen weniger am öffentlichen Leben teil, weil sie glauben, nicht mehr mithalten zu können“, sagt die Geschäftsführerin des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes im Kreis Soest/Hochsauerlandkreis. Nach ihrer Schilderung sind es nicht selten familiäre Veränderungen, die den Weg in die Armut bereiten. Beispiel: „Nach der Scheidung kann ein alleinerziehender Mensch nicht mehr Vollzeit arbeiten. Er verdient weniger und muss unvermindert für Miete und andere Lebenshaltungskosten aufkommen. Da gerät man schnell in die Schuldenspirale.“
Zunehmende Probleme seien Altersarmut – wegen der Pflegekosten – und der Wohnraum, so Kerstin Weitemeier weiter. „Häufig ist das Einkommen aufgebraucht durch hohe Mieten“, sagt sie und kennt nur eine Möglichkeit, diesem Teufelskreis zu begegnen. „Familien müssen finanziell entlastet werden, indem bezahlbarer und guter Wohnraum für sie zur Verfügung steht.“
Prekäre Beschäftigungsverhältnisse sind ein Problem
Für Isabell Mura, Geschäftsführerin der Region Südwestfalen der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG), haben die steigenden Armutsquoten viel mit der „starken Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse“ zu tun. Das bedeutet: Aus normalen Arbeitsplätzen werden immer häufiger Zeit-, Frist- oder Minijobs auf einem niedrigen Lohnniveau. Die NGG-Funktionärin hört von Arbeitnehmern immer wieder, dass sie von einem Job nicht leben können und weitere Beschäftigung annehmen müssen. „Das hat massive Auswirkungen auf die Familien- und Freizeit, auf die spätere Rentensituation und auch auf Entwicklungspotenziale der Kinder“, beschreibt Isabell Mura die Abwärts-Dynamik.
Jene, die am Ende dieser Dynamik stehen, sitzen in Hagen in der Suppenküche. Wie Heinz-Jürgen. Nicht mehr lang, sagt er, dann geht er in Rente. „Aber damit wird es ja auch nicht besser.“ Er zuckt mit den Schultern.