Hagen/Wetter. Elisabeth Habicht flüchtete aus einem deutschen Pflegeheim nach Polen. Im benachbarten Ausland funktioniert das Geschäft mit den Senioren.

Elisabeth Habicht lacht gern und viel. Es ist ein schallendes, fröhliches Lachen. Eines, das man meint, durchs Telefon sehen zu können. Eines, das sie wiedergefunden hat. „Ich habe noch keine Minute bereut, hier zu sein“, sagt die 84 Jahre alte Frau. Sie sitzt in ihrem Zimmer in der Seniorenresidenz, zweite Etage, Sonnenseite. Seit fast drei Jahren ist Kolberg an der polnischen Ostseeküste ihr Zuhause. Dort wird sie gepflegt. Pflegegrad drei. Vor den Zuständen in Deutschland ist sie geflüchtet.

Pflegenotstand durch Personalmangel

Pflege ist hierzulande selten etwas, das Betroffene oder Angehörige mit einem fröhlichen Lachen verbinden. Es geht um Wartezeiten, um Kapazitäten, um Kosten und Personalmangel. Vor allem in der „Kurzzeit- und Tagespflege“ komme es „zu starken Engpässen. Aber auch die Versorgung durch ambulante Pflegedienste und das Vorhandensein von Plätzen im Pflegeheim kann regional Probleme bereiten“, sagt Catharina Hansen, Pflegemarkt-Expertin bei der Verbraucherzentrale NRW.

Die Anzahl der Überweisungen des Pflegegeldes ins Ausland steigt zuletzt stetig.
Die Anzahl der Überweisungen des Pflegegeldes ins Ausland steigt zuletzt stetig. © funkegrafik nrw | Miriam Fischer

Der Fröndenberger Norbert Zimmering ist Regionalbeauftragter der Interessenvertretung Pflege und Beratung sowie Ombudsmann im Kreis Unna. Er wird gerufen, wenn es zu vermitteln gilt zwischen Patienten sowie deren Angehörigen und der Pflegeeinrichtung. „Die Probleme sind eher mehr geworden“, sagt er und nennt den Personalmangel als wichtigstes Kriterium des viel zitierten „Pflegenotstands“ in Deutschland. Weiteres Problem: „Steigende Eigenanteile, die von den Bewohnern bzw. deren Angehörigen aufzubringen sind, führen erfahrungsgemäß zu höheren Erwartungen an die Pflege- und Betreuungsqualität.“

Zum Probewohnen verabredet

Erwartung und Realität ließen sich auch bei Frau Habicht nicht vereinen. Die Wetteranerin war gestürzt. Knochenbrüche. Operation. Wieder allein nach Hause? Nein, das schien keine gute Idee zu sein. Sie kam in eine Einrichtung in der Nähe. „Ich hatte ein kleines Zimmer, dürftig möbliert. Die Toilette musste ich mir mit vier anderen teilen. Der Balkon durfte nicht betreten werden“, sagt sie. Die Pfleger und Pflegerinnen hätten stets wenig Zeit für sie gehabt. Kostenpunkt: rund 5000 Euro. Ein paar Monate blieb sie.

„So hatte ich mir den Lebensabend meiner Mutter nicht vorgestellt“, sagt Matthias Habicht, ihr Sohn. Er schaute sich nach Alternativen um. Weil sie früher gern ans Meer fuhr, suchte er an der Ostsee – und stieß im Internet auf eine Einrichtung in Polen. „Als wir losfuhren, dachten wir: Wenn es da nur halb so schön ist, wie auf den Bildern, wäre das schon toll“, sagt Matthias Habicht, Facharzt an einer Klinik in Oberhausen. Sie hatten eine Woche Probewohnen verabredet. Seine Mutter wollte direkt bleiben.

Geschäftsmodell im benachbarten Ausland

40 Quadratmeter habe ihr Einzelzimmer, sagt Elisabeth Habicht, einen begehbaren Kleiderschrank, viel Fachwerk, viel Grün drumherum. 1600 Euro koste das alles. „Für etwas Adäquates bezahlt man in Deutschland das Doppelte bis das Dreifache“, sagt Matthias Habicht.

Die Pflege von deutschen Senioren ist deswegen nicht nur im nahen Ausland zu einem Geschäftsmodell geworden. Tschechien, Slowenien, Ungarn, die Slowakei und Kroatien bieten neben Polen eine recht hohe Qualität bei vergleichsweise niedrigen Preisen. Die Seniorenresidenz von Frau Habicht, eine private Einrichtung, gibt es seit Dezember 2015. Sie wendet sich ausdrücklich an „deutschsprachige Senioren“ und wirbt damit, dass alle Pflegekräfte deutsch sprechen. Von den rund 100 Bewohnern seien „90 Prozent aus Deutschland“, sagt Joanna Bartnik, Koordinatorin des Projekts.

Die Distanz zur Heimat ist groß für Frau Habicht. Acht, neun Stunden sind es mit dem Auto aus NRW bis hinter die polnische Grenze. Nicht jedes ihrer drei Kinder war schon bei ihr. „Ich fühle mich hier zuhause und vermisse nichts“, sagt Elisabeth Habicht trotzdem.

Polnisch lernen und tanzen

Gebürtig kommt sie aus Oberschlesien, mit elf wurden sie und ihre Eltern im Ennepe-Ruhr-Kreis heimisch. Sie lernt in der Residenz Polnisch, macht Gymnastik, nimmt am Stuhltanzen teil. „Wir können schon Tango, Samba und Walzer“, sagt sie und lacht schallend. Es gefällt ihr dort, wo sie ist. „Drei Männer wollten mich schon heiraten.“ Wieder lacht sie. Einmal in der Woche fährt der kostenlose Bus zum Markt, der Strand ist nicht allzu weit.

„Meine Mutter ist wieder total aufgelebt“, sagt der Sohn über die Mama. Im kommenden Jahr, sagt sie, werde sie Ur-Oma.