Hagen. Wenn Erreichbarkeit außerhalb der Arbeitszeit erwartet wird, kann das gesundheitsschädlich sein. Aber wie kann Flexibilisierung gelingen?

Zeit und Ort werden flexibel, Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmen. Was macht das mit uns? Ein Experte für diese Fragen lehrt und forscht seit einem halben Jahr an der Fernuniversität Hagen. Prof. Dr. Jan Dettmers leitet das Lehrgebiet für Arbeits- und Organisationspsychologie.

Wie sind Sie zum Thema „neue Arbeitswelt“ gekommen?

Jan Dettmers In einem ersten Forschungsprojekt haben wir die psychischen und physiologischen Auswirkungen von Rufbereitschaft untersucht und Kriterien entwickelt, um sie besser zu gestalten. Damals haben wir festgestellt, dass allein durch die Erwartung, eventuell zum Dienst gerufen zu werden, der Kortisol-Level im Blut ansteigt und die Schlafqualität reduziert ist – selbst wenn es gar nicht zu einem Arbeitseinsatz kommt.

Ist das ähnlich, wenn Arbeitnehmer heute jederzeit und überall erreichbar und verfügbar sein sollen?

Ja, das kann man sagen. Das Thema Erreichbarkeit wird seit knapp zehn Jahren intensiv in den Medien diskutiert, aber es gab anfangs kaum empirische Studien dazu. Was wir jetzt sagen können, ist: Wenn Erreichbarkeit außerhalb der regulären Arbeitszeit erwartet wird, kann das gesundheitsschädlich sein. Wie stark, das hängt von der jeweiligen Ausgestaltung ab.

Kann heißt: Muss nicht?

Es gibt in der Praxis sehr unterschiedliche Formen von Erreichbarkeit in der Freizeit. Die Frage ist zum Beispiel: Betrifft das bestimmte Projektphasen oder ist es von Dauer? Geht es um ein Wochenende im Jahr oder wird die Freizeit alle paar Tage gestört? Kann ich Vereinbarungen treffen, um die Erreichbarkeit zu steuern? Kann ich vorhersehen, dass ich kontaktiert werde? Habe ich die technische Ausstattung, um reagieren zu können? Empfinde ich die Störung als legitim: Wird es wegen eines Notfalls als unvermeidbar empfunden oder gibt es nur ein Planungsproblem? Dann kommt es auf das Verhältnis zu den Vorteilen der Flexibilität für die Betroffenen an: Wenn die Balance stimmt, sind die Effekte nicht schädlich.

Es kommt also auf die Organisation der Arbeit an?

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Ja, die konkreten Bedingungen sind entscheidend. Man kann auch mit den Mitarbeitern an ihren Abgrenzungs- und Erholungsfähigkeiten arbeiten, um sie robuster zu machen, aber das ist eher Symptombehandlung. Die Priorität sollte bei den Arbeitsbedingungen liegen. Wenn die Organisation nicht stimmt, leiden häufig auch die Vorgesetzten: Sie werden im Urlaub von Mitarbeitern angerufen, weil diese entweder keine Entscheidungskompetenz haben und nicht genug Informationen.

Man kann also nicht generell sagen, ob Flexibilität gut oder schlecht für die Gesundheit ist?

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Es gab zu Beginn viele Studien, die positive Effekte verzeichneten. Und dann viele, die das Gegenteil konstatierten. Es kommt eben darauf an, was man unter Flexibilität versteht. Ist sie mitarbeiter- oder kapazitätsorientiert? Wer entscheidet, wann wo gearbeitet wird? Üblich sind Mischformen. Aber generell gilt: Je mehr der Mitarbeiter darüber entscheidet, desto besser geht es ihm.

Besteht nicht die Gefahr, dass Mitarbeiter sich zu sehr auspowern, wie es auch bisweilen Selbstständigen passiert?

Das hängt damit zusammen, dass Unternehmen heute anders gesteuert werden als früher. Es gibt weniger konkrete Anweisungen und mehr Zielvorgaben, die die Beschäftigten mit eigenen Mitteln erreichen müssen. Das schafft Selbstbestimmung und Autonomie, kann aber auch zu Überforderung führen, zum Ausfall von Freizeit und sogar zu leistungsfördernden Substanzen. Abhängige Mitarbeiter sollen wie Selbstständige agieren, es wird Konkurrenz zwischen Abteilungen gefördert. Bei Selbstständigen messen wir aber bessere Gesundheitsdaten. Dort scheint es also mehr Ressourcen zu geben.

Online-Coach für Beschäftigte in der Entwicklung

Jan Dettmers, 43, hat Psychologie in Hamburg und Rom studiert, als Programmierer, Systemadministrator, Berater, Trainer und Dozent gearbeitet. Nach einer Juniorprofessur an der Uni Hamburg und einer Vertretung an der Uni Leipzig übernahm er 2015 die Professur für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Medical School Hamburg. Im April 2019 wechselte er an die Fernuni.

Aktuell arbeitet Dettmers an einem Projekt, dass in Flensburg Arbeitszeiten mit dem ÖPNV sowie Öffnungszeiten von Ämtern und Kitas abstimmt und entwickelt einen Online-Coach für Beschäftigte zur Vermittlung von Arbeitsgestaltungskompetenz.

Vielleicht, weil sie sich die Situation selbst ausgesucht haben. Und generell: Wollen die Menschen diese ganze Flexibilisierung?

Das ist unterschiedlich. Junge Eltern beispielsweise haben an starkes Interesse an flexiblen Zeiten. Arbeitsschützer und Betriebsräte sehen das bisweilen kritisch, weil sie feste Arbeitszeiten auch als Schutz betrachten. Da gibt es bisweilen Konflikte. Aber generell nimmt das Bedürfnis nach Home Office und nach individuelleren Zeiten zu. Das macht die Arbeitsorganisation sicherlich komplexer. Negative Effekte der Flexibilisierung sehen wir immer, wenn das misslingt.

Und wie gelingt es? Keine E-Mails mehr am Abend?

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Dadurch könnten sich Mitarbeiter auch eingeschränkt fühlen. Wichtiger wäre es, Erwartungen klar zu kommunizieren. Wenn der Chef am Sonntagabend nicht „Tatort“ schaut, sondern Mails verschickt, möchte er vielleicht gar keine Antwort, sondern nur für sich schon den Montag vorbereiten. Wir sind hier noch in Lernprozessen, sowohl was die Selbstorganisation angeht als auch in Hinsicht auf Kulturtechniken: Früher durfte man nach der „Tagesschau“ nicht mehr anrufen. Jetzt müssen sich neue Normen entwickeln.