Hagen. Lebensmittelkontrolleur Martin Müller aus Drolshagen sieht die Lebensmittelüberwachung in Deutschland zu kleinteilig aufgestellt.

Alles andere als genussvoll zitierte das Verwaltungsgericht Kassel aus einem Prüfbericht der Lebensmittelüberwachung: „Der Raum war gefüllt mit völlig vergammelter Ware, Schimmel, Fäulnis, Gestank (…) am Boden war eine stinkende Flüssigkeit.“ Durch diese sei mit einem fahrbaren Untersatz Ware an die frische Luft gebracht worden. Zurück ging es wieder durch die stinkende Flüssigkeit – in Räume, die als hygienisch rein galten. Zu viel der Verstöße gegen das Lebensmittelrecht für die Richter. Sie lehnten einen Eilantrag von Wilke Wurstwaren gegen die Schließung ab.

Es hat offenbar zum Himmel gestunken in dem Betrieb in Twistetal-Berndorf, kurz hinter der nordrhein-westfälisch-hessischen Grenze, 20 Kilometer vom Marsberger Stadtkern entfernt. Martin Müller hat die Bilder von schimmeligen Würsten und dreckigen Produktionsräumen mit feuchten Rohren vor Augen, die an die Öffentlichkeit gelangten. „Seltsam“, sagt der Drolshagener, lange Zeit Vorsitzender des Bundesverbandes der Lebensmittelkontrolleure, und erzählt, dass er die ersten Berichte mit einem ungläubigen Erstaunen verfolge habe. Wilke sei ein Traditionsunternehmen, das regelmäßig kontrolliert und nach dem „International Featured Standard“ (IFS) zertifiziert wurde. „Die Hygiene-Standards im IFS hat sich der Handel selbst gegeben, sie sind ein Vielfaches höher als bei den amtlichen Kontrollen.“

Kein plötzlicher Hygiene-Absturz


Müller schüttelt den Kopf. „Ich halte es nicht für möglich“, sagt er, „dass es in dem Betrieb einen plötzlichen Hygiene-Absturz gab.“ Hygiene-Mängel entstünden nicht von heute auf morgen, sie seien das Ergebnis eines langwierigen Prozesses. Es muss also schon einige Zeit etwas im Argen gelegen haben bei der Wilke Waldecker Fleisch- und Wurstwaren GmbH & Co. KG? „Wenn Mitarbeiter berichten, dass sie nicht immer Mützen getragen haben, zeigt diese vermeintliche Nebensächlichkeit bereits, dass es grundsätzlich in Bezug auf Hygiene nicht gestimmt hat“, sagt Müller.

Elektronenmikroskopische Aufnahmen von Listerien (Listeria monocytogenes) auf der Oberfläche einer dendritischen Zelle. Gelb markierte Bakterien haben sich angeheftet, rot markierte dringen gerade ein. Anfang Oktober waren Listerien in Produkten der hessischen Firma Wilke Waldecker Fleisch- und Wurstwaren GmbH entdeckt worden.
Elektronenmikroskopische Aufnahmen von Listerien (Listeria monocytogenes) auf der Oberfläche einer dendritischen Zelle. Gelb markierte Bakterien haben sich angeheftet, rot markierte dringen gerade ein. Anfang Oktober waren Listerien in Produkten der hessischen Firma Wilke Waldecker Fleisch- und Wurstwaren GmbH entdeckt worden. © dpa | Manfred Rohde


Der Geschäftsführer des involvierten Zertifizierers hat öffentlich gemutmaßt, dass bei Betriebsbesuchen in Nordhessen womöglich eine „große Show“ abgeliefert worden sei. „Wäre dies so, hätten die Prüfer versagt“, findet Martin Müller. „Nur wer fehlerhaft prüft, dem wird eine ,große Show’ geboten.“

Gilt das womöglich auch für die amtliche Aufsicht? Clemens Tönnies, Aufsichtsratsvorsitzender von Schalke 04 und Fleisch- und Wurstwarengroßhändler, fordert eine Zentralisierung der Lebensmittelüberwachung. Derzeit liegt die Hoheit bei den Kreisen. „Ich gebe ihm recht“, sagt Martin Müller, „die Lebensmittelüberwachung hierzulande ist zu kleinteilig aufgestellt. Und darüber hinaus fehlt es an Personal.“ Tönnies wisse, wovon er spricht. In seinen Betrieben würde Hygiene gelebt. „Die können sich keine Mängel leisten. Hygiene ist für die bares Geld.“

Sanktionierung uneinheitlich

Zwar gebe es einheitliche Standards für Lebensmittelkontrollen in Deutschland, so Müller weiter. Was aber nicht vereinheitlicht sei: „Jeder Landkreis, jedes Bundesland kann nach eigenem Gusto Sanktionen verhängen: z.B. die Höhe von Bußgeldern oder die Schließung eines Betriebs.“ Der Sauerländer empfiehlt einen Blick auf die Jahresberichte des Bundesamtes für Verbraucherschutz: „Dann bekommen Sie ein Gefühl dafür, wie unterschiedlich sanktioniert wird. Es gibt keine einheitliche Herangehensweise in den Ländern. Das ist ein Fehler.“


Für Müller stößt hier der Föderalismus an seine Grenzen: „Landräte halten ihre schützende Hand über ihre Industrien, und leitende Veterinärmediziner sind oft Könige in ihrem Reich.“ Dass bei Betriebsbesuchen schon einmal ein Auge zugedrückt wird, will ein Vertreter der Branche, der nicht namentlich genannt werden möchte, nicht bestätigen: „Jeder Veterinär, Lebensmittelkontrolleur oder Zertifizierungs-Auditor riskiert doch, wenn er mit seiner Unterschrift im Prüfbericht einen mangelhaften Betrieb als ,in Ordnung’ einstuft, dass er eines Tages mit auf der Anklagebank sitzt.“

Sprachprobleme bei Zeitarbeitern

Wie konnte es zu Hygiene-Mängeln in Twistetal-Berndorf kommen? Für Andreas Kampmann von der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) ist die innerbetriebliche Qualitätssicherung aus dem Ruder gelaufen. „Geschäftsführer und Produktionsleiter müssen von den Missständen gewusst haben. Vielleicht wollten sie das Ganze aber gar nicht sehen.“ Die Wilke-Belegschaft sei im Laufe der Jahre immer kleiner geworden, erzählt Kampmann, von 250 auf 150 Mitarbeiter. Neben Stammbeschäftigten seien auch Leiharbeiter einer deutschen Zeitarbeitsfirma und eines Werkvertragsunternehmens aus Ungarn im Werk tätig gewesen. „Es beginnt bei Sprachproblemen und der Frage, ob jeder Hinweise auf hiesige Hygienevorschriften versteht.“ Weiterer Knackpunkt: „Heute sind die Zeitarbeiter an ein Metallunternehmen verliehen, morgen an einen Wursthersteller. Das ist in puncto Hygiene eine Fehlerquelle.“

Was ist zu tun? Für Lebensmittelkontrolleur Müller hätte es eine abschreckende Wirkung, wenn Betriebe bei Verstößen öffentlich benannt würden. „Mehr Betriebe hüteten sich dann vor Nachlässigkeiten“, ist sich der Sauerländer sicher, „sie wissen, dass die Kunden mit den Füßen abstimmen.“

Hoher Preisdruck in der Branche

Sind es womöglich auch die Kunden, die mit einer Geiz-ist-geil-Mentalität Schummeleien fördern? Die für das Essen ihrer Kinder in Kitas oder bei anderen Formen der sogenannten Gemeinschaftsverpflegung die Kosten möglichst niedrig halten wollen? Natürlich herrsche ein hoher Preisdruck bei den Verarbeitungsbetrieben, sagt ein Branchenkenner – mit sehr geringen Margen, wenn man wie Wilke im Billig-Segment unterwegs war. Es sei aber grundsätzlich nichts dagegen einzuwenden, sagt Lebensmittelkontrolleur Müller, wenn nicht so hochwertige Waren hygienisch einwandfrei verarbeitet werden, um sie auf dem Günstig-Sektor zu vertreiben: „Billig-Produkte sind nicht gleichzusetzen mit Gammelfleisch.“