Siegen. Immer mehr Rentner leiden unter Altersarmut. Die Siegenerin Hannelore Lohr berichtet, wie sie in diese Lage geriet – und wofür sie sich schämt.
Selbst als sie die Tränen nicht mehr zurückzuhalten kann, versucht Hannelore Lohr noch, Haltung zu bewahren. Aber es hilft nicht. Mit der einen Hand schiebt die 63-Jährige ihre Brille nach oben, in der anderen hält sie ein Taschentuch, mit dem sie Augen und Wangen trocknet. „Ja“, sagt sie kaum hörbar, „ich schäme mich.“ Die Siegenerin schämt sich für etwas, für das sie nicht viel kann. Für einen Umstand, unter dem viele leiden: Altersarmut.
Laut Bundesregierung gilt derjenige als arm, der weniger als 999 Euro im Monat zur Verfügung hat. Der Anteil der Rentner, die von Armut bedroht sind, liegt aktuell bei 16,8 Prozent. In den kommenden Jahren könnte dieser Wert auf 21,6 Prozent anwachsen. Das ergeben aktuelle Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung.
Frauen sind besonders oft betroffen
Besonders betroffen von Altersarmut sind Rentnerinnen. Frauen, die längere Zeit arbeitslos waren, die alleinstehend sind oder geringqualifiziert. Frauen, die gewohnt waren, sich um die Familie zu kümmern. Frauen, die im Leben nicht immer das nötige Glück hatten. Frauen wie Hannelore Lohr. Sie hat keine 500 Euro zum Leben.
Die Rentnerin sitzt im Wohnzimmer ihrer kleinen Wohnung in Siegen. Zwei Zimmer, Küche, Bad. Vor der Tür eine Kneipe und ein Döner-Imbiss, kleiner Balkon, auf dem Vogelhäuschen an der Wand hängen. Die Blaumeisen kommen oft vorbei. Frau Lohr sieht dann gern zum Fenster hinaus. Armut, sagt sie, mache auch einsam. An manchen Tagen geht sie gar nicht raus. Es fällt ihr ohnehin schwer: Sie leidet unter Bronchial-Asthma, die Hüften und die Knie schmerzen, die Schultern auch, Arthrose. Sie hat einen Rollator und Pflegegrad 2.
Tja, wie das alles kam?
Wo ist der Anfang?
Frau Lohr zuckt mit den Schultern. Vielleicht im Jahr 2000. Ihr Mann verließ sie von heute auf morgen, sagt sie. Ihr Sohn war da gerade elf Jahre alt. Ein Bild von ihm hängt an der Wohnzimmerwand. Er lebt in Hamburg und kann finanziell selbst nicht helfen. „Nach der Trennung war es sehr schwierig“, sagt sie. Ihr Leben war auf diesen Fall nicht vorbereitet. Es war ja anders gedacht.
Mit 14 musste sie die Schule verlassen
Ihr Vater, erzählt sie, habe sie mit 14 von der Hauptschule genommen. „Du brauchst nichts zu lernen, du bist ein Mädchen, du wirst irgendwann heiraten“, habe er gesagt. Das Geld, das sie in der Hosenfabrik durchs Nähen verdiente, half der Familie. „Ich wollte eigentlich gern Schaufensterdekorateurin werden“, sagt sie, ohne dass ihrem Gesicht eine Rührung zu entnehmen wäre. War halt nicht. Und Ende. Andere Zeiten damals.
Aber was ist heute? Frau Lohr holt einen Aktenordner und setzt sich zurück in ihren Sessel, in dem sie oft fernsieht. Tier-Dokumentationen am liebsten. Aber auch Serien. „Unter uns“ und „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“. Die haben da ihre eigenen Probleme. Dabei kann sie gut abschalten.
In der Grundsicherung
Die Klarsichthüllen, in die jedes Papier geschoben ist, knistern beim Umblättern. Gute Seiten, mehr schlechte Seiten. Sie fährt ein Dokument mit dem Zeigefinger ab. Ihr Rentenbescheid. 499,17 Euro monatlich seit Januar 2014. Strom, Telefon, Versicherungen, Bus-Fahrkarte und Eigenanteil Miete gehen da noch ab. 340,38 Euro Grundsicherung für den anderen Teil der Miete bekommt sie sowie Pflegegeld. Anfang des Monats holt sie immer 200 Euro ab, gegen Ende des Monats das, was noch da ist: meistens 50 oder 60 Euro Wenn es gut gelaufen ist.
Verschiedene Jobs hat sie gemacht. „Jobs, die keiner machen wollte. Meinem Sohn zuliebe, damit wir Geld hatten“, sagt sie. Sie fuhr Schrott, trug Motorblöcke und Autotüren. Für einen Schlachtbetrieb fuhr sie Ware aus. 30 große, rote Kisten voll mit Fleisch. Sie erlitt einen Leistenbruch. Aufhebung des Dienstverhältnisses. Der Unterleib machte danach Probleme. Operation. Komplikationen. Fast ein Jahr kostete sie das. Sie übernahm danach Ein-Euro-Jobs, pflegte städtische Gärten und Anlagen. In der Spülküche der Uni Siegen fand sie was. Doch ihr Körper und ihr Geist begannen, sie im Stich zu lassen.
Nichts ist mehr, wie es mal war
Frau Lohr holt einen weiteren Aktenordner. „Die Krankenakte“, sagt sie. Alles in Klarsichthüllen. Drei Psychotherapien hat sie nach der Trennung hinter sich gebracht. Diagnose: Persönlichkeitsstörung. Sie kann emotional aus der Balance geraten. Im Supermarkt in der Schlange zu stehen, während der Hintermann drängelt, überfordert sie.
„Nichts war mehr wie vorher“, sagt sie. Sie habe die Dinge immer gern selbst in die Hand genommen. Unterhalt, sagt sie, habe ihr Mann nie gezahlt. „Aber plötzlich konnte ich meine Angelegenheiten nicht mehr selbst regeln.“ Beim Arbeitsamt bricht sie in Tränen aus. „Mit dieser Diagnose musste ich erst lernen umzugehen. Da verzweifeln Sie dran.“ Sie fremdelt damals mit sich. Heute, sagt sie, habe sie sich abgefunden mit den Umständen. Sie hat sich mit ihrem Leben arrangiert.
Dieses Leben hat viel mit Verzicht zu tun. „Letzte Woche“, sagt sie, „habe ich große Lust auf eine Birne gehabt. Da habe ich mir eine einzelne Birne gekauft – für 80 Cent. Das habe ich mir ausnahmsweise mal erlaubt.“ Der letzte Kinofilm? „Der Medicus“ von 2013. Der letzte Urlaub? Vor zwei Jahren. Ihr Cousin, der auch in Siegen lebt, nahm sie mit nach Dänemark. Auf dem Tisch steht eine kleine blaue Kerze aus Rømø. Jeden Euro dreht sie zweimal um. „Die Hose“, sagt sie und zupft an dem dünnen Stoff, „sechsfünfundzeunzig.“ Beim Discounter gekauft. Sie weiß, unter welchen Umständen diese Sachen hergestellt werden, sie weiß, dass sie sie nicht kaufen sollte. Es ist ihr peinlich. Aber was soll sie machen, wenn sie eine Hose braucht? Oder gar einen Kühlschrank. So war das neulich. Rücklagen hat sie nicht. Die „Lichtblick Seniorenhilfe“, ein durch Spenden getragener Verein, schenkte ihr einen.
Kaufen, was im Angebot ist
Dass es so etwas gibt, darüber freut sie sich. Denn es gibt sie: Die Dinge, die ihr Freude bereiten. Sie kauft, was im Angebot ist und kocht jeden Tag. Die Reste friert sie sich ein. Manchmal – wenn sie weiß, dass sie sich das leisten kann – bringt sie auch der Nachbarin etwas. „Die freut sich immer so, wenn sie von der Arbeit kommt“, sagt sie und lächelt.
Es ist jene Nachbarin, die Frau Lohr einen kleinen Hund aus Stein geschenkt hat. Er dient als Türstopper für die Balkontür. Er sitzt immer da auf dem Boden und schaut aus dem Fenster. Und teilt den Anblick der Blaumeisen mit Frau Lohr.