Hagen. Reichsbürger sind eher ein Phänomen im ländlichen Raum, sagen Experten. Was ihnen Sorge bereitet: Dass sich Reichsbürger radikalisieren.

Neben „Staatsangehörigen des Bundesstaates Preußen“ sind auf der einschlägigen Internetseite auch „interessierte Menschen“ angesprochen, „die den gelben Schein ausstellen wollen“. Es geht in diesem Fall um einen Reichsbürger-Stammtisch in Arnsberg, nicht der einzige seiner Art in Südwestfalen.

Reichsbürger bestreiten die Existenz der Bundesrepublik Deutschland und wollen mit Hilfe eines Staatsangehörigkeitsausweises („gelber Schein“) – ein amtliches Dokument, dass auf ein Gesetz im Kaiserreich zurückgeht – zum Souverän werden. Dem Verfassungsschutz zufolge hat die Reichsbürgerszene in NRW Schwerpunkte im Kreis Soest und im Hochsauerlandkreis.

Sind Reichsbürger eher ein ländliches Phänomen?

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Ja, sagt Benjamin Winkler von der gemeinnützigen Amadeu-Antonio-Stiftung: „Es sind eher kleinere Gemeinden, die höhere Fallzahlen aufweisen.“ Weil die Menschen Strukturschwäche, den Rückzug von Institutionen oder den demografischen Wandel auf dem Land spürten, so Martin Schubert von „demos - Brandenburgisches Institut für Gemeinwesenberatung“, könnten sie empfänglich sein für die Reichsbürger-Idee einer Selbstverwaltung. „Also werden Eingriffe des Staates – wie zum Beispiel die Erhebung von Straßenbaubeiträgen oder der Entzug des Führerscheins – als sehr schwerwiegend wahrgenommen“.

Zudem könne das Phänomen Reichsbürger durch die sozialen Gegebenheiten befeuert werden, so Schubert: „Auf dem Land herrscht auch angesichts intensiverer nachbarschaftlicher Beziehungen noch eine größere Solidarität als in der Stadt.“ Erfahre jemand Repressalien seitens des Staates, schlage ihm womöglich mehr Aufmerksamkeit und eine andere Form von Verständnis entgegen, sagt Schubert. „Auf dem Land bestätigt man sich eher gegenseitig.“

Sind Reichsbürger organisiert?

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Nein, sagt Benjamin Winkler. Reichsbürger seien keine heterogene Gruppe und nur im geringen Maß organisiert. Viele Gruppierungen hätten oft nicht viel mehr als eine Handvoll Mitglieder. Eine bundesweite Organisation gebe es derzeit nicht. „Aber Reichsbürger sind über das Internet sehr verbunden, ohne eine tiefere Struktur zu haben. Sie holen sich ihren ideologischen Kitt über selbst gemachte Filme anderer Reichsbürger aus dem Internet oder durch das Konsumieren verschwörungsideologischer Portale.“ Meike Bogdan vom NRW-Innenministerium betont, dass „neben kleinen, sektenartigen Gruppen mit hohem Organisationsgrad es ebenso lose strukturierte Gruppierungen sowie Einzelpersonen gibt, die nur im Internet aktiv sind oder sich an Behörden wenden“.

Gibt es den typischen Reichsbürger?

Nein, sagt Martin Schubert von „demos“. Aber er erkenne Parameter für einen Prototypen: eine männliche Person zwischen Mitte 50 und Mitte 60, alleinstehend und sozial isoliert, die einen oder mehrere biografische Brüche erlebt hat. Das könnten zum Beispiel ein Jobverlust, eine gescheiterte Ehe und eine Privatinsolvenz sein. Schubert: „Reichsbürger haben häufig eine narzisstische Persönlichkeit – sie haben das Gefühl, mit der Komplexität der Moderne in einer globalisierten Welt nicht mehr klar zu kommen.“ Und man dürfe nicht vergessen, dass es auch Reichsbürger mit zwanghaften Zügen gibt, die oft sehr pedantisch seien.

Inwiefern fallen Reichsbürger in der Öffentlichkeit auf?

„Durch ihren Kampfeswillen bei Streitigkeiten mit Verwaltungen“, sagt Reichsbürger-Experte Martin Schubert. Typisch sei, dass sie gerne in Ämtern auftauchten, um ihren Pass zurückzugeben. „Oder sie stellen Schilder auf ihrem Grundstück auf - mit dem Hinweis, dass man fremdes Territorium betritt.“

Haben die Behörden das Phänomen Reichsbürger unterschätzt?

Den Vorwurf könne man ihnen nicht machen, findet Martin Schubert. „Natürlich mag anfangs der Eindruck in Verwaltungen entstanden sein, es mit Spinnereien oder Querulantentum von Möchtegern-Aussteigern zu tun zu haben.“ Aber inzwischen wisse man, dass Reichsbürger zwar kein Staat im Staate sein wollen – dass sie aber immer eine abstrakte Gefahr darstellen können. Vor allem dort, wo Vollstreckungsmaßnahmen anstehen. Das spürten insbesondere Gerichtsvollzieher, die bedroht werden. Oder Polizisten. Schubert: „Ich erinnere nur an den Mord an einen Beamten in Mittelfranken vor drei Jahren. Dort war es fatal, dass ein Mann mit einem wahnhaften Weltbild eine Waffe besaß.“ Aber: Der Staat in Bezug auf Reichsbürger nachgesteuert, findet Schubert. „Verwaltungen sind jetzt viel sensibilisierter, das Phänomen steht auf der Agenda des Verfassungsschutzes. Man schaut genauer hin und greift rigoroser durch. Zum Beispiel, indem man Reichsbürger aus dem öffentlichen Dienst entlässt.“

Ist Waffenbesitz ein durchgängiges Phänomen bei Reichsbürgern?

Nein. Der Anteil von Waffenbesitzern an den 19.000 Reichsbürgern in Deutschland liege nur im einstelligen Prozentbereich, so Experte Schubert. „Aber die, die bewaffnet sind, stellen immer eine Gefahr dar.“ Nach dem Vorfall in Mittelfranken kassiere der Staat häufiger waffenrechtliche Erlaubnisscheine bei Reichsbürgern ein – was richtig sei.

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Die zuständigen Behörden, so Meike Bogdan vom NRW-Innenministerium, prüften in jedem Einzelfall, ob bestehende waffenrechtliche Erlaubnisse widerrufen werden können. Denn: „Zu beobachten ist eine hohe Waffenaffinität der Reichsbürgerszene.“ Die bisher begangenen Gewalttaten wie das versuchte Tötungsdelikt in Sachsen-Anhalt 2016 oder der Mord an einem bayerischen Polizeibeamten im selben Jahr zeigten, dass „zumindest in Teilen der Szene die Auffassung vorherrscht, die eigene Ideologie im Sinne eines vermeintlichen Selbstschutzes unter Gewaltanwendung zu verteidigen“.

Haben Reichsbürger eine Nähe zu Rechtsextremisten?

Nicht jeder Reichsbürger sei rechtsextremistisch, sagt Martin Schubert. „Aber die Schnittstellen sind groß.“ Zum Beispiel bei den Themen Gebietsrevisionismus und Geschichtsklitterung, bei verschwörungstheoretischen Erklärungsansätzen oder bei der Ablehnung des Rechtsstaats. Benjamin Winkler bereitet es große Sorge, dass die Gruppe der Reichsbürger immer mehr mit rechten Gruppierungen zusammengehe: „Es gibt Kontakte zu Neonazis, zur Szene der Prepper, zu Verschwörungstheoretikern und rechtsextremistischen Kreisen.“ Es finde eine zunehmende Politisierung und Radikalisierung statt, es komme zu einer Verquickung mit rechtsterroristischen Bestrebungen: „Verschiedene Milieus entwickeln gemeinsam Feindbilder und Mordgelüste.“

Was muss der Staat tun?

„Er muss klar kommunizieren, dass Reichsbürger nicht nur Spinner und Querulanten sind, die in Verwaltungen Ärger machen – sondern auch Menschen, die sich mit rechten Milieus vernetzen, sich radikalisieren und im Zweifel auch Waffen einsetzen“, so Benjamin Winkler. Der Staat müsse hart durchgreifen: „Einem autoritären Milieu muss mit entschlossener Gegenwehr begegnet werden.“ Milde – zum Beispiel durch das Nicht-Ahnden kleinerer Delikte – sei der falsche Weg. Meike Bogdan vom NRW-Innenministerium zufolge reagierten betroffene Behörden aufmerksam und konsequent und meldeten Reichsbürger-Vorfälle den Sicherheitsbehörden. Dass mehr Personen als Reichsbürger registriert würden, habe „mit der erfolgreichen Aufklärung und Sensibilisierung durch die Sicherheitsbehörden zu tun. Hinzu kommt, dass die massenhafte Verbreitung von einschlägigen Formularen und Mustervordrucken der Reichsbürgerszene dazu ermuntert, sich die Ideologie der Reichsbürger- und Selbstverwalterszene zu eigen zu machen.“ Daher werde der NRW-Verfassungsschutz, so Meike Bogdan, genau beobachten, ob die Szene weiteren Zulauf hat.