Bonn/Siegen. Die Mittelstandsforscherin Friederike Welter ist optimistisch, dass auch kleine und mittlere Unternehmen die Chancen nutzen.
Friederike Welter ist seit 2013 Präsidentin des Instituts für Mittelstandsforschung (IfM) in Bonn. Seitdem kooperiert das IfM mit der Universität Siegen, an der Friederike Welter die Professur für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Management kleiner und mittlerer Unternehmen und Entrepreneurship, inne hat. Die Ökonomin ist gefragte Wissenschaftlerin bei internationalen Forschungsprojekten. So hat sie u. a. an verschiedenen OECD-Studien mitgewirkt. Für ihre Forschungstätigkeit zu kleinen und mittleren Unternehmen ist sie mehrfach international ausgezeichnet worden.
Laut einer kürzlich vom Wittener Institut für Familienunternehmen durchgeführten Befragung hat jedes fünfte Unternehmen keine eigene Digitalisierungsstrategie. Alarmiert sie das?
Friederike Welter: Nein, denn erstens heißt das, dass vier Fünftel eine Strategie haben, und zweitens ist das Thema Digitalisierung möglicherweise nicht für alle Mittelständler gleich wichtig.
Ist denn nicht Digitalisierung das Wichtigste überhaupt?
Das Thema wird derzeit sehr gehypt, dabei ist es gar nicht völlig neu. Der Umgang mit dem Internet ist ein altes Thema. Nun beschleunigt sich alles. Aber Mittelstand ist nicht gleich Mittelstand, und die Digitalisierung bedeutet für die produzierende Industrie etwas ganz anderes als für Einzelhandel, Handwerk oder Freiberufler. Da gibt es eine enorme Bandbreite an neuen Geschäftsmodellen, Vernetzungen, Kommunikationswegen.
Und das ist den Mittelständlern bewusst?
Da sind sie unterwegs.
Gut genug?
In Teilen könnten wir weiter sein. Wir haben bei den kleinen Unternehmen lange eine starke Zurückhaltung beim Cloud-Computing beobachten können, das entwickelt sich gerade. Und Big Data wird zu einem immer größeren Thema. Es geht bei der Digitalisierung ja nicht nur um Technik.
Sondern um Daten?
Da stehen viele Unternehmen noch am Anfang: Wer nutzt die Daten? Wer hat Eigentumsrechte daran? Wem gehören die Daten, die der mittelständische Zulieferer in die Wertschöpfungskette hineingibt? Was heißt das für neue Geschäftsmodelle, etwa die Fernwartung? Und macht man sich darüber überhaupt Gedanken? Da sind noch viele offene Fragen.
Eine Initiative von Ludwig Erhard
Friederike Welter, geboren 1962 in Neheim, studierte in Wuppertal und Bochum Wirtschaftswissenschaften. 2002 wurde sie von der Universität Lüneburg habilitiert. Von 1993 bis 2006 war sie am Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) tätig.
Das IfM wurde 1957 auf Initiative des damaligen Wirtschaftsministers Ludwig Erhard von der Bundesrepublik und dem Land NRW gegründet. Mehr als 20 Wissenschaftler beschäftigen sich dort mit der Lage der kleinen und mittleren Unternehmen (KMU), die 58 Prozent zur Netto-Wertschöpfung aller Unternehmen beitragen und bei denen 58 Prozent aller sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten arbeiten.
Muss denn alles digitalisiert werden?
Das ist eine der Fragen: Braucht der Bäcker eine App? Der Einzelhandel muss sicher etwas tun. Auch die Industrie wird verstärkt physische Produkte mit digitalen Dienstleistungen verknüpfen. Bei anderen reicht es möglicherweise, nur einen Teil der Prozesse zu digitalisieren. Aber zugleich ändern sich die Arbeitsbedingungen: Was bedeutet es, wenn die Mitarbeiter nicht mehr ständig vor Ort sind? Da ist digitale Führungskompetenz gefragt.
Ist das nicht viel verlangt, wenn nicht einmal die Grundbedingungen vorhanden sind, also ein leistungsfähiges Breitbandnetz und 5G?
Manchmal schieben die Unternehmen eigene Versäumnisse auf Mängel in diesem Bereich. Aber wir sind ein Flächenland, viele leistungsstarke Mittelständler sitzen gerade nicht in den Metropolen, und deshalb brauchen wir auch eine entsprechende Infrastruktur, übrigens auch für die Landwirtschaft. Da gibt es interessante neue Geschäftsmodelle.
Also 5G doch an jeder Milchkanne?
Die Netzinfrastruktur muss ausgebaut werden.
Und dann kommt der große Wandel von selbst?
Von selbst sicher nicht. Wer erfolgreich ist, sieht oft wenig Grund, über die Unternehmenszukunft nachzudenken oder gar das Geschäftsmodell zu ändern. Das erfahre ich gerade in Südwestfalen häufig, diese Einstellung: Mir geht es doch gut. Aber diese bequeme Haltung kann gefährlich werden. In der Krise ist es manchmal zu spät fürs Umsteuern. Da könnte es gut tun, mehr junge Leute ins Unternehmen zu holen oder mit Start-ups zu kooperieren. Die großen Unternehmen machen das bereits. Manche kleine haben aber im Tagesgeschäft gar nicht einmal die Zeit über eine Strategie nachzudenken.
Ist die Digitalisierung also eine Bedrohung?
So wird das manchmal betrachtet. Da wird viel Angst aufgebaut. Ich sehe eher die großen Chancen. Was da beispielsweise an der Uni Siegen erforscht wird im Bereich der digitalen Medizinversorgung für den ländlichen Raum – da eröffnen sich wiederum Möglichkeiten auch für mittelständische Unternehmen.
Sie befürchten keine Arbeitsplatzverluste?
Wir passen uns an, die Arbeit ist heute auch anders als vor 20 Jahren. Wir müssen nur die Leute mitnehmen. Kritisch könnte es eventuell bei den Ungelernten werden.
Aber der Mittelstand packt das?
Nicht alles ist rosig. Es gibt Unternehmen, die gar nichts tun. Aus der volkswirtschaftlichen Perspektive betrachtet, ist eine gewisse Turbulenz auf dem Markt sowieso hilfreich: Neue Wettbewerber zwingen etablierte Unternehmen zu strategischen Anpassungen oder eben zum Marktaustritt. Doch individuell oder auch regional sind Unternehmensschließungen immer problematisch. Aber insgesamt bin ich optimistisch. Wenn wir nicht nur die Probleme sehen, sondern in erster Linie die Chancen, und wenn die Rahmenbedingungen stimmen, müsste der Mittelstand weiter sehr erfolgreich arbeiten können.
Macht es denn da Sinn, eine nationale Industriestrategie auszurufen auf Größe zu setzen, wie es Wirtschaftsminister Altmaier tut?
Der Mittelstand ist dabei etwas zu kurz gekommen. Aber es gibt derzeit Überlegungen, auch eine Mittelstandsstrategie zu entwickeln.
Rutschen wir gerade in eine Rezession?
Ich weiß es nicht. Wir haben ein abgeschwächtes Wachstum. Und wir können Dinge auch herbeireden: Wenn wir erwarten, dass es uns schlecht geht, geht es uns auch schlecht. Also: Es kommt darauf an, wie wir über Dinge reden. Auch bei der Digitalisierung.