Olsberg. Gerhard Kieseheuer als Olsberg-Bigge ist Vorsitzender des Vereins der Direktversicherungsgeschädigten. Betroffene fühlen sich vom Staat betrogen.
Im April wollte Gerhard Kieseheuer aufhören. Das war abgemacht. Ein Versprechen. Aber seine Frau hat dem nicht getraut. Deshalb ist sie mitgefahren zur Mitgliederversammlung. Sie wollte verhindern, dass er sich noch einmal bereiterklärt, den Vorsitz zu übernehmen. Aber dann ist genau das passiert. Weil es ein Problem mit dem vorgesehenen Nachfolger gab. Und weil dem 70-jährigen Rentner aus Olsberg-Bigge der Verein der Direktversicherungsgeschädigten (DVG) zu wichtig ist. Weil die Interessenvertretung derer, die sich vom Staat betrogen fühlen, gerade jetzt nicht nachlassen darf, meint er. Deshalb hat er noch ein Jahr drangehängt.
Ein Fulltime-Job
Es ist nicht so, dass Kieseheuer sonst nichts zu tun hätte. Er würde gerne wieder regelmäßiger ins Sportstudio gehen. Er ist engagiert in der katholischen Kirche, predigt bei Laien-Gottesdiensten. Und gerade war Schützenfest. „Aber der DVG-Vorsitz ist ein Fulltime-Job“, sagt der frühere Metzgermeister, „auch samstags und sonntags. Oft sitze ich schon morgens um 5 am Computer.“
Der steht im Keller. Da hatte Kieseheuer schon sein Büro, als er noch berufstätig war. Er hat für ein großes Unternehmen Gewürze vertrieben. Heute stehen drei Telefone auf dem Schreibtisch. Fünfmal klingelt es während unseres Gesprächs. 26 Mails sind heute schon eingegangen. „Ich habe den Ehrgeiz, sie schnell zu beantworten“, sagt Kieseheuer.
Der Startpunkt für sein Engagement war im April 2012. Da bekam er seine Direktversicherung ausgezahlt, in die er 26 Jahre lang 200 Mark pro Monat eingezahlt hatte. 55.000 Euro ergab das, wegen der Zinsentwicklung weniger als anfangs erwartet. Ärgerlich, aber nichts zu machen. Und dann dies: „Drei Wochen später hatte ich einen Bescheid der Krankenkasse: Ich sollte Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge auf die Gesamtsumme bezahlen. Über zehn Jahre. Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteil.“ Das waren 10.248 Euro.
Gerhard Kieseheuer glaubte an einen Irrtum. Nein: Alles rechtens, hieß es. Er arbeitete sich in die Materie ein und stellte fest, dass sich 2004 die Gesetzeslage geändert hatte. Als er wie viele Arbeitnehmer, die fürs Alter vorsorgen wollten, die Kapitallebensversicherung abschloss, musste er zwar Sozialabgaben bezahlen, aber weniger Lohnsteuer. Anfangs 10 Prozent, 15 Prozent ab 1992, 20 Prozent ab 1996. Bei der Auszahlung würden dann keine Sozialbeiträge fällig, war festgelegt.
Anfang der 2000-er Jahre aber waren die Krankenkassen klamm. Und die Politik beschloss, doppelte Sozialbeiträge auf Betriebsrenten zu erheben. 2004 wurde das Gesetz dazu geändert. „Über Direktversicherungen steht darin nichts“, sagt Kieseheuer. Weil aber bei dieser Gehaltsweiterleitung der Arbeitgeber als Versicherungsnehmer geführt wird, obwohl der Arbeitnehmer die Beiträge leistet, wurden Direktversicherungen wie Betriebsrenten behandelt. Rückwirkend. Obwohl zum Zeitpunkt der Abschlüsse, vor allem in den 1980-er Jahren, etwas anderes zugesagt war. Für Gerhard Kieseheuer steht fest: „Wir sind betrogen worden.“
Er stellte seinen Fall auf einer Seite namens „Altersdiskriminierung“ vor. Zwei andere Betroffene meldeten sich, einer aus Berlin, einer aus dem Raum Stuttgart. Man beschloss, gemeinsam dagegen anzugehen, gründete die „Interessengemeinschaft Gesundheitsmodernisierungsgesetzgeschädigter“ und demonstrierte erstmals im März 2015 in Berlin. Politiker empfahlen eine Vereinsgründung, die erfolgte im Oktober des Jahres, und der etwas sehr sperrige Name änderte sich auch. „Inzwischen haben wir knapp 3000 Mitglieder“, erzählt Kieseheuer stolz. Vor Gerichten hatten die Geschädigten bislang keinen Erfolg. Die Richter betrachten die Direktversicherung eben als Betriebsrente. Politiker zeigen Verständnis. Die Sauerländer Bundestagsabgeordneten Dirk Wiese (SPD) und Patrick Sensburg (CDU) wollen sich für eine Entlastung einsetzen. Mit Friedrich Merz ist ein Gespräch vereinbart. Der ehemalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière sagte Unterstützung zu. Die Senioren-Union verlangt eine Änderung der Regeln. Die Linke setzt sich ein. „Aber einfach nur sagen, hilft nichts“, meint Kieseheuer. „Praktisch muss etwas geschehen.“
Es geht um zehn Milliarden
Die Geschädigten wollen ihr Geld zurück. Das wären insgesamt zehn Milliarden Euro, meint der DVG. im Gesundheitsministerium rechnet man mit 40 Milliarden. Und die seien nicht finanzierbar. „Eine Ausrede“, meint der Kämpfer aus Bigge: „Das schließt die Betriebsrenten mit ein. Und um die geht es uns ja nicht.“
Also geht der Verein verstärkt an die Öffentlichkeit, sucht den Kontakt mit Medien, ruft regelmäßig zu Demos auf. In Facebook, Twitter und Instagram hat sich der 70-Jährige eingearbeitet. Und im Herbst soll in allen Landeshauptstädten gleichzeitig demonstriert werden. In rosa Westen. „Wer Rentner quält, wird nicht gewählt“, heißen dann die Parolen oder „Erst angelockt, dann abgezockt“.
„Es ist etwas in Bewegung gekommen“, meint Kieseheuer. Er setzt auf eine Rückzahlung. Aber er findet auch: „Es ist doch toll, wie weit wir schon gekommen sind.“ Und er gibt zu bei allem Stress und Ärger: „Der Einsatz macht auch viel Spaß.“ Ob im April 2020 also wirklich Schluss ist für ihn?