Schwelm/Menden. Kann man seiner Herkunft entkommen? Warum die preisgekrönte Autorin Judith Kuckart in Schwelm ein Erzähltheater zum Thema Heimat inszeniert
Judith Kuckarts Heldinnen existieren in Transit-Orten, in Wohnungen, die bald gekündigt werden oder auf Flughäfen. Dort ringen sie um ein fragiles Gleichgewicht zwischen Eingesperrtsein und Dazugehörigkeit. In fast allen Romanen der mehrfach mit Preisen ausgezeichneten Autorin spielt eine Kleinstadt am Rande des Ruhrgebiets eine Rolle: Schwelm, wo Judith Kuckart herkommt. Dort inszeniert die 60-Jährige am Wochenende das Erzähltheater Heimat. Beim Kunstfest Passagen in Menden gestaltet sie eine Erzähl-Installation im Park von Gut Rödinghausen. Und ihr neuer Roman „Kein Sturm, nur Wetter“ erscheint heute beim Dumont-Verlag.
„Es ist ganz schön, wenn meine Figuren an Orten auftreten, die mir vertraut sind. Ich könnte mir nicht vorstellen, dass ich eine Geschichte in Bali spielen ließe.“ Judith Kuckart lebt heute in Berlin - wie die Protagonistin ihres neuen Romans. Sie schreibt über Menschen, meist Frauen, die auf der Suche sind. Die ihrer Herkunft entkommen wollen, aber nur schwer irgendwo anders ankommen. Keine Helden, aber mutige Leute. So wie die namenlose Hirnforscherin in „Kein Sturm, nur Wetter“, die in der Kleinstadt am Rande des Ruhrgebiets in einem Hochhaus aufgewachsen ist, im achten Stock, zusammen mit Oma und Mutter, die rauchen und Bier trinken.
Bleierne Langeweile am Sonntag
Mit 18 Jahren (Abiturschnitt 0,9) geht sie nach Berlin, studiert Medizin und sitzt als 54-Jährige sonntags auf dem Flughafen Tegel, um Männer zu beobachten. Trotz ihrer Intelligenz kann die Hirnforscherin sich nicht überwinden, Karriere zu machen. „Sie weigert sich, zu funktionieren. In meinen Büchern laufen die Frauen ja alle aus der Spur. Erfolg ist nicht unbedingt die Bedingung eines geglückten Lebens.“
Wenn die Hirnforscherin an die Sonntage in der Kleinstadt zurückdenkt, empfindet sie das Gefühl bleierner Langeweile. Jetzt, mit 54, weiß sie: „Es gibt eine Art Ereignislosigkeit, die der Meditation ähnelt.“ Die leise Melancholie, die hinter dieser Erkenntnis steckt, ist die Begleitmusik in vielen Büchern Judith Kuckarts. Die Autorin ist keine Schnellschreiberin. Ihre Sätze sind mit großer Sorgfalt entworfen, leicht, aber treffsicher; man kann sie nicht überlesen. Mit dieser suchenden, präzisen Sprache nähert sie sich den Sinnfragen. Was passiert mit Erinnerungen, wenn man sie vergisst? Kann man seiner Herkunft entkommen? Die Heimatfrage ist damit eng verwoben.
Orte der Kindheit
„Eine Laterne am Straßenrand erzählt einem vom Ort der Kindheit und Jugend. Ich nenne diese Bilder emotionale Lokaltermine.“ Für ihr Erzähltheater hat Judith Kuckart eingesessene Bürger und Zugezogene eingeladen, den früheren Lokalchef der Zeitung, ihre ehemalige Tanzlehrerin, Flüchtlinge, aber auch den Burgschauspieler Hans Dieter Knebel und seine Tochter Caroline Knebel, die wie Judith Kuckart selbst in Schwelm geboren wurden. „Hans Dieter Knebel habe ich sofort wiedererkannt. Er ist ein ehemaliger Bäckermeister aus Schwelm, führte das Café Knebel, und heute ist er Burgschauspieler.“
Impulse von Pina Bausch
Pina Bausch brachte Knebel seinerzeit zum Theater und auch Judith Kuckart. Denn die studierte nach prägenden Vorstellungsbesuchen in Wuppertal selbst Tanz an der Folkwanghochschule Essen und gründete ein eigenes Tanztheater. Schreiben und Theaterarbeit sind bei ihr eng miteinander verwoben. „Das Wort Heimat hat eine große Atmosphäre und eine große Frage. Man darf es keinesfalls den Rechten überlassen. Für mich ergibt sich Heimat inzwischen aus dem Spannungsverhältnis zwischen denen, die geblieben und denen, die gekommen sind.“
Beim Kunstfest Passagen in Menden geht es Judith Kuckart hingegen um Hörtheater. Dafür hat sie Künstlerfreunde eingeladen, bei ihr in der Küche Texte einzusprechen, die sich mit der menschlichen Existenz und Vergänglichkeit beschäftigen. „Hanna Schygulla erinnert sich dabei an eine Rilke-Elegie aus ihrer Schulzeit, das ist sehr anrührend.“ Die Aufnahmen werden ab 1. September im Park von Gut Rödinghausen als Hörinseln installiert.
Die namenlose Hirnforscherin hat als Kind oft aus dem Hochhaus zu den erleuchteten Fenstern der Fabrikantenvilla gegenüber geblickt. Ein paar Meter Luftlinie nur, aber eine andere Welt. „Erleuchtete Fenster haben immer ein Versprechen auf ein anderes Leben und einen Neuanfang. Erleuchtete Fenster haben etwas mit Schreiben und Theater zu
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- und für Heimat. „Heimat ohne Offenheit wäre furchtbar.“
Judith Kuckart, Kein Sturm, nur Wetter. Dumont-Verlag, 22 Euro