Hagen. . Die Probleme: Es gibt kein staatliches Zulassungsverfahren für digitale Medien. Die Begründung ist ökonomisch, nicht pädagogisch. Ein Interview.
Viele Monate lang wurde über den Digitalpakt Schule gestritten. Ohne Tablets und WLAN an den Schulen sei die Zukunft Deutschlands gefährdet, hieß es. Und jetzt zweifelt der Hagener Bildungsforscher Dr. Maik Wunder grundsätzlich an der Sinnhaftigkeit des digitalisierten Klassenzimmers? Er hat ein Buch über den Diskurs zum Thema geschrieben, dafür Medien ausgewertet und drei Jahre eine Schule im Sauerland begleitet (die ungenannt bleiben will).
Was haben Sie gegen digitale Bildungsmedien?
Maik Wunder: Prinzipiell nichts. Ich teile auch die Ansicht einiger Kritiker nicht, die einen Gegensatz von Mensch und Technik konstruieren, von Entfremdung und gar Versklavung reden. Solche Anschauungen sind einem veralteten Menschenbild verhaftet und laufen deshalb ins Leere.
Prinzipiell nicht falsch, aber praktisch doch?
Entscheidend beim Lernerfolg bleibt das Gespräch
Der neuseeländische Forscher John Hattie und sein Augsburger Kollege Klaus Zierer untersuchen seit Jahren, wovon der Lernerfolg von Kindern abhängt. Jüngstes Ergebnis: Digitalisierung bringt wenig, entscheidend bleiben die Beziehung zwischen Schüler und Lehrer und ihr Gespräch.
Ein Problem besteht darin, dass es für digitale Medien, anders als für Schulbücher, kein staatliches Zulassungsverfahren gibt. Wer kontrolliert also, was für den Unterricht geeignet ist? Das wird den Lehrenden aufgebürdet, doch die sind von der Vielzahl an zu erledigenden Aufgaben und dem Zeitdruck überfordert. Grundsätzlich ist es natürlich eine gute Sache, wenn die Lehrmittel aktueller werden. Schulbücher sind zwar verlässlich, doch was heute auf den Markt kommt, hinkt den neuesten Erkenntnissen um Jahre hinterher. Und dann sind die Bücher zehn weitere Jahre in Gebrauch.
Wäre da keine Positivliste vorstellbar?
NRW versucht gerade, eine Struktur aufzubauen, in der geprüfte Inhalte zur Verfügung gestellt werden. Aber der Markt ist riesig, es gibt viele kommerzielle Anbieter, die Lage ist unübersichtlich. Es besteht die Gefahr, dass nicht-pädagogische Akteure Zugriff auf die Schule bekommen. Wir müssen doch klären, welche verbindlichen Inhalte wir vermitteln wollen. Das können wir nicht der Beliebigkeit des Netzes überlassen.
Sie stören sich aber auch an der begleitenden Diskussion?
Man gewinnt den Eindruck, das deutsche Bildungswesen gehe unter, wenn wir uns nicht digitalisierten. Das wird betrachtet im Sinne eines internationalen Wettbewerbs. Und diesen Wettbewerbsgedanken greifen nun die einzelnen Schulen auf, um sich einen Vorteil gegenüber anderen zu verschaffen.
Wettbewerb muss doch nicht immer schlecht sein. Und können die digitalen Medien nicht das individuelle Lernen fördern, das so wichtig sein soll?
Die Möglichkeit des individualisierten Lernens klingt erst einmal gut. Aber tatsächlich treten die überlasteten Lehrkräfte einen Teil ihrer Verantwortung durch die digitalen Artefakte an die Lernenden ab. Und dann werden die Begriffe Individualisierung und Selbstverantwortlichkeit gerne zusammen mit Effizienz und Produktivität benutzt. Die stammen nicht aus der Pädagogik, sondern aus der Ökonomie. Der Diskurs um die Digitalisierung folgt neoliberalen Denkfiguren, statt einer pädagogischen Prämisse.
Was ist schlecht an Effizienz?
Nichts. Aber es ist keine pädagogische Kategorie. Lernen hat mit entdecken zu tun, auch mit sich verirren, nicht mit einer Produktion. Bildung ist mehr, als bestimmten Anforderungen zu genügen. Bildung ist mehr als Ausbildung.
Das ist ja kein neuer Konflikt.
In der Tat. Schon im 19. Jahrhundert gab es Bestrebungen aus der Wirtschaft, statt der alten Sprachen lieber neue und mehr Naturwissenschaften zu unterrichten. So kam zum Humanistischen das Realgymnasium. Das geht heutzutage weiter mit der stetigen Forderung nach einer stärkeren Rolle der MINT-Fächer oder nach Wirtschaft als Schulfach. Die Digitalisierung beschleunigt diesen Prozess noch und bildet die Spitze der Denkfigur.
Wie sollten Lehrer darauf reagieren?
Ich empfehle eine kritische Distanz. Schule sollte sich wieder mehr als eigenständiger, genuin pädagogischer Raum verstehen, der natürlich auch gesellschaftlichen Anforderungen gerecht werden muss, der aber entschleunigt und nicht direkt an einer schnellen Verwertbarkeit orientiert ist.