Siegen. Überraschende Erkenntnisse sind garantiert, wenn sich Künstler um Bücher kümmern. Warum, das zeigt jetzt eine Ausstellung in Siegen

„Der Bücherdrache“ von Walter Moers erobert derzeit die Bestseller-Listen. Buchsammlungen sind nicht erst seit Umberto Ecos „Der Name der Rose“ ein beliebtes Motiv in der Literatur. Jetzt untersucht das Museum für Gegenwartskunst in Siegen das Thema aus der Perspektive der Konzeptkunst. Die Ausstellung „Der Traum der Bibliothek“ bietet eine ebenso faszinierende wie überraschende Auseinandersetzung mit Büchereien als Orten der Wissensvermittlung für Jedermann, als utopischen Refugien des freien Geistes, als Brutstätten für Sonderlinge, als Menschheitsgedächtnis und Wissensspeicher und als Landmarken eines gelebten Lebens.

Candida Höfer: Pierpont Morgan Library New York
Candida Höfer: Pierpont Morgan Library New York © Candida Höfer

Dabei ähnelt die Bibliothek in ihrer Funktion dem Museum – und beide müssen ihre Rolle angesichts der digitalen Medien im Spannungsfeld von Weltbildern und Parallelwelten neu erfinden.

Wuchernde Europaletten

Europaletten und Sperrmüll-Regale entwickeln ein Eigenleben, sie dienen als Aufbewahrungsort für Fachliteratur und Romane, sie wachsen und wuchern, wer sich hier sein Nest gebaut hat, muss nie mehr in die böse Wirklichkeit hinaus. Achim Bitters Rauminstallation „Bibliothek“ ist ebenso beklemmend wie betörend. Jedes Buch öffnet mit seinen Seiten eine ganz neue Welt. Doch dieser Zauber ist gefährlich. Man kann sich im Labyrinth der Seiten verlieren, so wie Carl Spitzwegs „Bücherwurm“, der sich in einer metaphysischen Bibliothek vergraben hat.

Auf den Spuren des Bücherwurms

Der österreichische Künstler Erwin Wurm nimmt die eigentlich unmögliche Körperhaltung des Spitzweg-Protagonisten zum Aufhänger für eine Ein-Minuten- Skulptur. Ein Podest, 15 Philosophiebände und eine Anweisung stellt der Künstler den Besuchern zur Verfügung. Die sollen sich eine Auswahl der Titel zwischen Beine und Arme klemmen und diese Position eine Minute halten – ein Balanceakt, der scheitern muss, so wie auch Spitzwegs „Bücherwurm“ sich nicht mehr bewegen kann, ohne einen Folianten fallen zu lassen.

Dr. Eva Schmidt, die scheidende Direktorin des Museums für Gegenwartskunst, erfüllt sich mit dieser großen Ausstellung, die 21 Künstler in 12 Räumen des Hauses präsentiert, einen lange gehegten Wunsch, in dem Spitzwegs kleines Bild eine wichtige Rolle einnimmt. Ein Druck hing in der Buchhandlung ihres Großvaters, „ein faszinierender Ort“. Doch der Auslöser für die Entwicklung der Ausstellung war Candida Höfers Serie mit Fotografien zu menschenleeren Räumen voller Bücher: Die Bibliothek als autarker Ort, der das Chaos der Welt bändigt, indem er das Wissen der Welt in perfekten Ordnungssystemen bewahrt und überliefert.

Physische Präsenz des Buchs

Kunsthistorikerin Dr Eva Schmidt
Kunsthistorikerin Dr Eva Schmidt © MGK Siegen

Natürlich sind Bibliotheken mehr als metaphysische Konzepte. Sie besitzen ja eine physische Präsenz, Bücher und Bretter lassen sich zu Geometrie und Farbe abstrahieren, sie bilden Landschaften, sie können verletzt und zerstört werden. Damit experimentieren Künstler ebenso wie mit dem alten Topos vom freien Gedanken, der sich auf Schwingen über alle Verbote erhebt. Peter Wüthrich bringt in der Installation „Die Wahrheit über meine Freunde“ aufgeklappte Bücher mit flatternden Seiten auf Stangen hoch oben im Raum zum Schweben. Eva Schmidt: „Viele Konzeptkünstler spielen mit Büchern, mit Sammlungsparametern, mit ästhetischen Aspekten.“

Eva Schmidt schätzt das Internet, mit dem sich heutzutage verlorene Bücher in Minutenschnelle antiquarisch finden lassen. „Gebrauchte Bücher sind spannend, man weiß, dass sie vorher jemandem gehört haben, aber man weiß nicht, wem. Sie sind aus der Zeit gefallen, aus den ökonomischen Beziehungen, aber man kann die Beziehung erneuern, die man dazu hat.“ Bücher gedeihen überall, selbst in der Antarktis, wo Lutz Fritsch neben der unterirdischen Forschungsstation des Alfred-Wegener-Instituts für Polarforschung eine grasgrüne „Bibliothek im Eis“ errichtet hat.

Zerstörte Bibliotheken

Die Zerstörung der größten Bibliothek der Welt in Bagdad 1258 durch die Mongolen gilt als eine der Kulturkatastrophen der Menschheit. Das ist lange her. Und immer noch richtet sich der Hass von Diktatoren und Fanatikern auf Bücher. Abigail Reynolds beschreibt in ihrer Videoarbeit „The Ruins of Time: Lost Libraries“ Orte ehemaliger Bibliotheken entlang der Seidenstraße aus 2000 Jahren Menschheitsgeschichte. Umgekehrt zeigt Beatrix Schwehm mit ihrem Film, „Erlesene Welten“, wie Menschen Bücher in die entlegensten Ecken der Erde bringen, auf schwimmenden Bibliotheksbooten und per Kamelkarawane. Denn der Zugang zum Lesen, zu Büchern, ist wichtiger denn je als Schlüssel für Teilhabe an der Gesellschaft.

Die Ausstellung „Der Traum der Bibliothek“ ist vom 31. März bis zum 1. September im Museum für Gegenwartskunst in Siegen zu sehen. Die Eröffnung beginnt am Sonntag um 12 Uhr. Zur Schau wird ein umfangreiches Begleitprogramm angeboten.
www.mgk-siegen.de