Hagen. . Hat die Hagener Leitstelle zu spät auf Notrufe reagiert? Ein Gutachter attestiert Mitarbeitern Fehlverhalten. Die Staatsanwaltschaft ermittelt.

Seit einem Jahr ist kein Tag vergangen, an dem Chrissavgi Michalakidou nicht am Grab ihres Mannes war. Seit 365 Tagen geht die Witwe aus Hagen-Hohenlimburg Tag für Tag mit ihrer Tochter auf den Friedhof. „Eine Kerze für Papa anzünden, wie Sofia sagt.“ Am 9. Februar 2018 ist Vassilios Galasoulas im Alter von 50 Jahren gestorben. „Ich kann es immer noch nicht glauben“, sagt die medizinische Fachangestellte und fährt mit stockender Stimme fort: „Er könnte noch leben, wenn die Notrufe bei der Hagener Feuerwehr ernst genommen worden wären.“

Krankentransportwagen ohne Notarzt

Erst eineinhalb Stunden nach seinem ersten 112-Anruf in der Einsatzleitstelle der Stadt Hagen am Mittag des 9. Februar 2018 kam ein Krankentransportwagen zu ­seiner Wohnung. Ein Notarzt war nicht dabei. Vassilios Galasoulas brach vor dem Sanitäter zusammen.

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Die Telefonate wurden aufgezeichnet. Er bekomme keine Luft, ihm sei schwindelig, ihm gehe es „total schlecht“, sagte der Anrufer zu dem Mitarbeiter der Leitstelle. Dieser antwortete, dass dies „nichts für die Notfallrettung“ sei und er seinen Hausarzt rufen solle. Ein kardiologisches Gutachten der Helios Klinik Attendorn im Auftrag der Staatsanwaltschaft Hagen kam im Juli 2018 zu dem Ergebnis, dass das „vorliegende Fehlverhalten“ zweier Mitarbeiter der Leitstelle „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ursächlich für den eingetretenen Tod des Patienten“ war. Bereits nach dem ersten Notruf habe es nahe gelegen, dass es dem Patienten schlecht gehe und er keine Luft bekomme: „Akute Dyspnoe (Luftnot) kann Ausdruck eines lebensbedrohlichen Zustandes (...) sein und hätte das Ausrücken eines Rettungswagens und Notarzteinsatzfahrzeuges zur Folge haben müssen.“

Selbstanzeige erstattet

Verantwortliche der Leitstelle hatten nach dem Abhören der Mitschnitte Selbstanzeige erstattet. Die Staatsanwaltschaft leitete unter dem Aktenzeichen 400 Js 116/18 ein Ermittlungsverfahren gegen die beiden Mitarbeiter ein. Chrissavgi Michalakidou hat bis heute nicht erfahren, ob es zu einer Anklage oder gar einer Einstellung gekommen ist. Ihre Anwältin Mélanie Scheuermann wollte Akteneinsicht. Aus der Staatsanwaltschaft kam der Hinweis, dass das Schriftstück irgendwo unterwegs sei. Die Juristin: „Das schaue ich mir nicht mehr lange an.“

Auf Nachfrage der WESTFALENPOST bei der Staatsanwaltschaft Hagen erklärte deren Sprecher Gerhard Pauli, dass „aufgrund der komplexen Sachlage, die unter anderem die Erstellung eines Gutachtens erforderlich machte, ein Verfahrensabschluss bislang nicht möglich“ war. Das Gutachten datiert vom Juli 2018.

Chrissavgi Michalakidou sitzt neben ihrer Schwester in einer Hagener Anwaltskanzlei. Sie trägt seit dem Tod ihres Ehemannes schwarze Kleidung. „Zu seiner Ehre.“ Am späten Vormittag des 9. Februar 2018 verließ sie ihre Wohnung, um zur Arbeit zu gehen. Der letzte Arbeitstag vor ihrem 50. Geburtstag zwei Tage später. „In ein paar Stunden hast Du es geschafft“, sagte ihr Mann voller Vorfreude. Es sollten seine letzten Worte zu seiner Frau sein. Um 13.45 Uhr erhielt sie einen Anruf von einer Nachbarin: „Ihr Mann wird reanimiert.“ Er wurde noch in eine Klinik gebracht, dort starb er um 15.34 Uhr.

Seit mehr als 25 Jahren verheiratet

Das Ehepaar war mehr als ein Vierteljahrhundert verheiratet. Ein Sohn (22) und eine Tochter (20) sind aus der Ehe hervorgegangen. Chrissavgi Michalakidou hält ihre Hände vor die Augen und vergießt Tränen. „Ich muss funktionieren“, sagt sie nach kurzem Schweigen, „muss in meiner Trauer stark sein für meine Kinder.“ Es habe keine Anzeichen gegeben, dass Vassilios Galasoulas’ Leben so plötzlich enden würde. Chrissavgi Michalakidou holt ihr Smartphone aus der Handtasche und zeigt Bilder ihres Mannes. Ein schlanker, sportlicher Typ, der jünger als 50 aussieht. „Er war ein fröhlicher und positiv denkender Mensch, der mitten im Leben stand.“ Die Obduktion ergab, dass er irgendwann einen stummen Herzinfarkt gehabt haben muss.

Neun Minuten nach dem ersten Anruf von Galasoulas (12.14 Uhr) hatte zudem eine Sprechstundenhilfe seines Hausarztes bei der Leitstelle angerufen und geschildert, dass der „panische“ Patient, der kaum Luft bekomme und kein Gefühl mehr im Arm habe, dringend Hilfe benötige. Zumal ihr Chef über kein mobiles EKG-Gerät für Hausbesuche verfüge. Ein anderer Mitarbeiter der Leitstelle erwiderte, dass er hoffe, dass die Beschreibung der Beschwerden so stimme. Ansonsten folge eine Rechnung.

Fragen an die Stadt Hagen

Fast eine Stunde später rief Galasoulas wieder in der Leitstelle an und fragte, wann endlich Hilfe komme. Wieder war sein erster Ansprechpartner am Telefon. Man habe ihn nicht vergessen. 88 Minuten nach dem ersten Notruf kam ein Krankentransportwagen. Zu spät.

„Mein Mann hat sich auf die deutsche Gründlichkeit verlassen“, sagt Chrissavgi Michalakidou, „er hat die 112 gewählt und ist dann Opfer eines völlig unzureichenden Notfallmanagements geworden. Warum schrillten in der Leitstelle nicht die Alarmglocken?“ Die 50-Jährige würde gerne von der Stadt Hagen wissen, ob die beiden Mitarbeiter zur Verantwortung gezogen wurden. „Ich habe bis heute von der Stadt nichts gehört. Kein Kranz bei der Beerdigung, keine Trauerkarte, keiner hat mich seit dem Tod meines Mannes mal gefragt, wie es mir geht.“ Ihre Anwältin hatte die Stadt zu einer Stellungnahme zu dem Vorfall bis zum 1. Februar 2019 aufgefordert. Kurz vor dem Termin kam ein Schreiben mit der Bitte um eine dreiwöchige Fristverlängerung. Anwältin Scheuermann: „Ich verstehe das nicht. Die Sache liegt doch ein ganzes Jahr zurück.“

Stadt Hagen gibt keine Stellungnahme ab

Die WESTFALENPOST wollte u.a. von der Stadt Hagen wissen, ob es nach der Selbstanzeige Konsequenzen gab und ob man in Kontakt mit der Witwe stehe. Weil das Ermittlungsverfahren noch nicht abgeschlossen sei, gebe man keine Stellung ab, so Stadtsprecher Michael Kaub.

„Die Ungewissheit ist unerträglich“, sagt Chrissavgi Michalakidou. „Soll hier ein Fehlverhalten, das zum Tod meines Mannes geführt hat, womöglich totgeschwiegen oder ausgesessen werden?“ Die Sache wühlt sie bis heute auf. Sie verliere langsam den Glauben an die Gerechtigkeit. „Sie zerbrechen daran. Es ist wie eine offene Wunde, die nicht heilen kann.“

Gebührenbescheid für Rettungsdienst

Mitte April 2018 lag ein Gebührenbescheid der Stadt Hagen in ihrem Briefkasten, adressiert an den verstorbenen Ehemann. Für die „Inanspruchnahme des Rettungsdienstes“ sollten 1086 Euro überwiesen werden. Chrissavgi Michalakidou rief in der Verwaltung an. „Eine entsetzte Sachbearbeiterin sagte mir, dass ich die Sache als gegenstandslos ansehen solle.“