Hagen. . 1919 zeigt Hagen die erste große Ausstellung Lyonel Feiningers. Für Heinrich Brocksieper (21) verändert sie die Welt. Er wird Bauhauskünstler

Heinrich Brocksieper ist 1919 zwar erst 21 Jahre alt, aber längst kein Junge mehr. Denn er hat bereits einen Krieg hinter sich. Da zeigt das Folkwang-Museum in seiner Heimatstadt Hagen die erste große Ausstellung des Malers Lyonel Feininger. Brocksiepers Welt verändert sich. Kurz darauf folgt er Feininger als Student an das neugegründete Bauhaus in Weimar. Der Hagener Brocksieper (1898–1968) gehört zur Avantgarde am Bauhaus. Sein Nachlass liegt in Dessau und Weimar. Zum 100-Jahr-Jubiläum des Bauhauses erinnert ab 24. März auch das Emil-Schumacher-Museum in Hagen an den faszinierenden Künstler.

Metropole der Moderne

Brocksiepers Biographie steht beispielhaft für die Stimmung in Hagen um die Jahrhundertwende. Die Industrie bringt Geld in die Stadt. Der Kunst-Pionier Karl Ernst Osthaus sorgt für eine ungeahnte geistige Aufbruchstimmung, indem er die wegweisenden Maler und Architekten der Moderne nach Westfalen einlädt. Die Bürgerschaft gründet ein Orchester und baut ein Theater. Heinrich Brocksiepers Eltern führen einen Malerbetrieb in der Alleestraße. Heinrich besucht von 1915 bis 1916 die Städt. Malerfachschule. Max Austermann ist sein Lehrer, der ihn bestärkt und fördert. „Dort lernte er Zeichnen, Malen und Entwerfen. Das figürliche Malen war damals Teil der Ausbildung eines Anstreichers“, erinnert sich sein Sohn, der Bildhauer Utz Brocksieper. „Der Beruf bestand ja nicht nur aus Tapezieren und Anstreichen. Ein Maler musste zum Beispiel Ausmalungen in einem Treppenhaus gestalten können.“

Der Student aus Hagen ist begeistert von der Fotografie

1916 fällt Brocksiepers Bruder, der die Firma übernehmen sollte, im Ersten Weltkrieg, anschließend wird er selbst eingezogen, er ist erst 18 Jahre alt, muss nach Russland und Frankreich und erkrankt in den Schützengräben an der Lunge. Als er 1918 zurückkommt, gehört er zur verlorenen Generation. Viele Freunde sind tot, die Überlebenden brechen ihr Studium ab oder verlieren nach der russischen Oktoberrevolution ihr Geld. Nach dem Tod des Vaters führt die Mutter den Familienbetrieb weiter; es sind ja keine Männer mehr da.

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Brocksieper ist nicht der einzige Hagener, der im Wintersemester 1919 ans Bauhaus geht. Er reist zusammen mit seinem Freund Reinhard Hilker und Erna Mayweg. „Es gab damals ganz viele Leute in Hagen, die sich für das Bauhaus interessierten“, beschreibt Utz Brock-sieper die Ära. „Die Künstler-Szene natürlich, die Kaffeehaus-Leute, die Stummfilmmusiker.“

Wissenschaft des Sehens

Dem Bauhaus geht es um eine „Wissenschaft des Sehens“. Kunst und Technik sollen eine neue Einheit bilden. Der Student aus Hagen ist begeistert. Er wendet sich dem avantgardistischsten Medium zu, das die Zeit kennt, dem Film und der Fotografie. Bis 1922 studiert Heinrich Brocksieper und arbeitet bei Feininger in der Druckerei. Nach einigen Wanderjahren errichtet er im Hof des Elternhauses ein Foto- und Filmatelier, es entstehen „perpelleristische“ Trickfilme und Zeichentrickfilme. „Fotografie war für diese Künstler-Generation so faszinierend wie für die heutige das Internet“, erläutert Utz Brock­sieper. Es wird allenthalben unterschätzt, welchen Einfluss technische Neuerungen haben. So führt beispielsweise die Erfindung des elektrischen Lichts ohne Umwege zur Lichtkunst.

Alltagsgegenstände

Heinrich Brocksieper untersucht mit der Kamera Alltagsgegenstände, Fenster, Fassaden, Trinkgläser, Kuchenstücke. „Er interessiert sich für die Struktur der Oberfläche, die Dinglichkeit, das ist sein Hauptthema“, so sein Sohn. In dieser neuen Sachlichkeit nimmt der Hagener die Industriefotografie von Bernd und Hilla Becher bereits vorweg.

Mit den Nationalsozialisten will Brocksieper nichts zu tun haben, Atelierbesuch und Ausstellungsbeteiligungen lehnt er ab. Offiziell ist er in dem Malerbetrieb seiner Mutter angestellt. Er mietet ein zweites Atelier in Hagen-Wehringhausen am Wilhelmsplatz, „dort gab es Künstlerfeste, das war der Künstler-Untergrund, das war nicht die offizielle Kunstszene des Regimes. Emil Schumacher ist ganz oft gekommen.“

Der heute ungleich bekanntere Schumacher übersteht die NS-Zeit in seinem Elternhaus in Wehringhausen. Mit Brocksieper findet er einen Freund, der ausgebildeter Bauhauskünstler ist, der dem Jüngeren weitergeben kann, was er in Weimar gelernt hat.

Fast alle Fotografien verbrennen im Bombenangriff

1939 muss Heinrich Brocksieper wieder in einen Weltkrieg ziehen. 1942 kehrt er verwundet von der Front zurück. Dann fallen die Bomben auf Hagen. 1944 wird das Wohnhaus der Familie in der Alleestraße zerstört. Bis auf ein kleines Konvolut verbrennen alle Fotografien und Filme.

Nach Kriegsende gibt es kein Material, mit dem man filmen oder fotografieren könnte. Brocksieper besinnt sich wieder auf die Zeichnung. Zusammen mit Emil Schumacher sammelt er am Volmeufer Pfaffenhütchen-Holz, um daraus Zeichenkohle herzustellen. In der Folge entsteht ein beeindruckendes Oeuvre, im Spätwerk auch an Pastellen, mit einer eindringlichen Bildsprache. „Er entwickelt die Perspektive der nahen Dinge“, analysiert sein Sohn. „Tasten, Fühlen, Begreifen, alles, womit der Mensch in Berührung kommt, beschäftigt ihn nun als Maler.“

Brief an Lyonel Feininger

Diese Ästhetik skizziert der Hagener Bauhauskünstler 1950 in einem Brief an seinen verehrten Lehrer Lyonel Feininger in New York: „Die Zeit hat mich gelehrt, nahe an die Dinge heranzutreten.“