Hagen. . Ist Protest demokratisch, selbst wenn er die Abschaffung der Demokratie fordert? Ein Problem, das am Theater Hagen unkonventionell gezeigt wird
Unter dem Stichwort „Fridays for Future“ gehen derzeit jeden Freitag Jugendliche für eine schöpfungserhaltende Klimapolitik auf die Straße. „Es ist nicht Deine Schuld, dass die Welt ist, wie sie ist. Es wär nur Deine Schuld, wenn sie so bleibt“, singen die „Ärzte“. Die junge Bühne Lutz im Theater Hagen beschäftigt sich jetzt mit der Frage, was nach den Demos kommen kann. Lutz-Leiterin Anja Schöne stellt George Orwells Klassiker „Animal Farm“ in eine Rahmenhandlung, in der eine Gruppe von Berufsdemonstranten nicht nur auf jeden Protest-Zug aufspringt, sondern auch analysiert, wo politische Teilhabe endet und wo Machtmissbrauch beginnt.
Protest muss geübt werden
George Orwells dystopische Fabel „Animal Farm“ war 1945 eine bitterböse Auseinandersetzung mit dem Stalinismus. Die Tiere verjagen den menschlichen Besitzer des Bauernhofes, der sie misshandelt, und übernehmen selbst das Regiment. Das funktioniert anfänglich gut. Dann ziehen die Schweine immer mehr Privilegien und Macht an sich und errichten eine neue Diktatur, die noch schrecklicher ist als jene von Bauer Jones. Es sind eben nicht alle Tiere gleich, manche sind gleicher. In der Sowjetunion war das Buch verboten.
Die Eltern der heutigen jungen Schauspieler-Generation waren fest davon überzeugt, mit Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg und Atomwaffen die Demokratie noch demokratischer machen zu können. In der jungen Bundesrepublik musste man nach der Erfahrung der NS-Diktatur Widerstand gegen das System erst üben. Heute teilt sich die Protest-Bewegung. Die einen setzen sich für Umweltschutz und Frieden ein, die anderen fordern „Ausländer raus“. Wer hat denn Recht – und ist das Mittel des Protestes ein Instrument, das die Demokratie weiterbringt, selbst, wenn die Protestierer die Abschaffung demokratischer Grundwerte fordern?
Komplexe Fragen
Die Fragen, die sich heutige Jugendliche stellen müssen, sind also komplexer als die der Vietnamkriegs-Gegner früher. Anja Schöne greift das auf, indem sie aus „Animal Farm“ eine bilinguale deutsch-englische Laborsituation macht. Eric Carter, Sarah Cossaboon und Björn Lukas singen und spielen die Gruppe „Pig Revolution Movement“ ebenso fröhlich wie alle Tiere auf der Farm von der Henne bis zu Schaf und Esel. Während die professionellen Protestierer die Aktionen, an denen sie beteiligt waren, so gewieft aufzählen wie ein Autohändler seine besten Gebrauchten, wird die Farm schauspielerisch mit Anklängen an das spontane Improvisationstheater lebendig. So spielt Eric Carter unter anderem die Kuh, die dringend gemolken werden muss, den revolutionären Schweine-Intellektuellen Schwatzwutz mit Brille und das fleißige Zugpferd Boxer, das allen Krisen mit „I will work harder“ begegnet. Sarah Cossaboon ist die kulleräugige Schweine-Basisdemokratin Snowball, die es mit Vernunft versucht, wo andere manipulieren und die von Björn Lukas als Napoleon mit Gewalt verjagt wird.
Jeremias Vondrlik hat aus Betonblöcken, einem Gatter und einem Hausschlacht-Galgen eine Raumlösung geschaffen, die von den Darstellern problemlos immer wieder umgebaut werden kann. Die Schweine sichern sich darin zunächst nur alle Milch und alle Äpfel und kassieren die jungen Hunde ein. Viel zu spät merken die Tiere, dass die Welpen zu einer grausamen Miliz gedrillt wurden und dass ihre Werte verraten werden.
Ein offenes Ende
Anja Schöne lässt das Stück ergebnisoffen. Soll man sich wirklich mit Bauer Jones, also den Verhältnissen, abfinden, aus Angst vor potenziellen Schweinen? Gibt es eine Möglichkeit, Basisdemokratie einzuführen, ohne dass sie korrumpiert wird? Eine Lösung bietet die Hagener „Animal Farm“ nicht an. Demokratie ist anstrengend. Stattdessen realisieren Anja Schöne und ihr überbordend spielfreudiges Team Theater als Experiment und Diskurs.
Die Kostüme hat eine Projektgruppe aus minderjährigen Flüchtlingen des Werkhofs Hagen gestaltet – Jugendliche, die noch nie im Theater waren und auch keinen Bezug zum Theater hatten. Davon gibt es in der Region viele. Sie mit mutigen, unkonventionellen Theaterformen zu erreichen, ist das Ziel der jungen Hagener Lutz-Leiterin.
Darsteller Björn Lukas identifiziert sich am Ende ein bisschen zu sehr mit seiner Rolle als Schwein Napoleon. Er will auch in der Protestgruppe das Sagen haben. Lassen die anderen ihm das durchgehen? Hier endet das Stück.