Hagen. . NRW ist trauriger Spitzenreiter bei den verbalen und körperlichen Attacken auf Bahn-Mitarbeiter. Zwei Zugbegleiter aus der Region schildern ihren Alltag.

Manchmal, sagt Frau Klaus, wird sie nachts wach. Erbricht sich. Fühlt sich elend. Kann nicht wieder einschlafen. Und wenn doch, dann plagen sie Albträume. Die Angst ist nicht immer da, aber sie kommt verlässlich wieder. Das hat mit ihrem Beruf zu tun. Frau Klaus, die im wahren Leben nicht Frau Klaus heißt, ist Zugbegleiterin. 54 Jahre alt. Oft in Zügen im Sauerland unterwegs. „Manche Gäste flippen einfach aus, man kann das nicht berechnen“, sagt sie. Ihr Kollege, Herr Werner, sagt: „Respekt uns gegenüber gibt es nicht mehr. Die Zahl der Übergriffe hat drastisch zugenommen.“

Zwei Wochen lang krankgeschrieben

Keine gefühlte Wahrheit. Sondern Wirklichkeit. Die Zahl der leichten und schweren Körperverletzungen gegen Bahn-Mitarbeiter ist von 2012 bis 2017 um mehr als 160 Prozent gestiegen. Und Nordrhein-Westfalen nimmt in dieser Statistik einen traurigen Spitzenplatz ein. Nirgendwo kommt es zu mehr Zwischenfällen. Frau Klaus weiß das. Sie erlebt das jeden Tag.

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© dpa / Grafik: Manuela Nossutta

Es ist noch gar nicht so lange her, da war sie wegen akuter körperlicher Schmerzen zwei Wochen lang krankgeschrieben. Sehnenanriss im Finger, zwei ausgerenkte Halswirbel, Kopfschmerzen. Sie hatte zwischen Meschede und Freienohl eine Gruppe Jugendlicher kontrollieren wollen. Einer von ihnen hatte lediglich ein manipuliertes Ticket vorzuweisen. Er sprang auf, drückte Frau Klaus in den Sitz, rammte ihr das Knie in den Bauch, zog sie an den Haaren, entriss ihr das Ticket und warf es aus dem Fenster. Frau Klaus blutete an den Fingern, ließ den Zug anhalten und die Polizei kommen. Der Täter flüchtete zunächst, wurde aber später gefunden und zu 130 Tagessätze à zehn Euro Strafe verurteilt.

„Der Druck ist enorm“

Seit dem Angriff, sagt sie, hat sie die Angstzustände. Sie musste sich in die Obhut der Dienstpsychologin begeben. „Der Druck ist mittlerweile enorm“, sagt Michael Gerhards, Ortsgruppenvorsitzender Bestwig der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer.

Die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft dokumentiert jeden Fall genau. 1631 Übergriffe auf Zugbegleiter waren es im Jahr 2018 allein in NRW (Vorjahr: 1326). Beleidigungen sind noch das harmloseste. Zugbegleiter werden bedroht, körperlich angegangen, genötigt, angespuckt, sexuell belästigt. Ein kleiner Auszug. .„Kein Ticket, kein Ausweis, die Bahn gehört mir, du Hurensohn.“ Oder: „Schatz, beim nächsten Mal steche ich dich nieder.“ Oder: „Ich f... dich und deine Mutter.“

Er sei gern mit Menschen in Kontakt, sagt Herr Werner, der auch anonym bleiben will. Auch deswegen habe er den Job einst angetreten. Seit sieben Jahren ist er Zugbegleiter, hilft, wenn er helfen kann. Und belegt diejenigen mit Strafen, die fahren, ohne gezahlt zu haben. Das ist sein Job. „Beleidigung ist Tagesgeschäft“, sagt er. „Einmal Arschloch am Tag ist Standard.“

Nahkampfgebiet Mittelgang

Manches überhöre er mittlerweile einfach, sagt er. Ist besser für die eigene Gesundheit. Aber daran gewöhnen kann und will er sich nicht. Vier Mal hat er bereits an den Deeskalationsseminaren teilgenommen, zu denen die Deutsche Bahn ihre Mitarbeiter alle zwei Jahre verpflichtet. Wer mag, kann auch öfter hingehen. Dort lernen die Zugbegleiter, wie sie sich und dem Gegenüber in der Enge des Mittelganges einen Fluchtweg lassen, wie sie kritische Situationen auflösen können. Und wie sie Angriffe mit Aktentaschen, Regenschirmen und sonstigen Gegenständen abwehren. Bahnfahren als Nahkampfgebiet.

„Gegenüber unseren Mitarbeitern stellen wir eine zunehmende Gewaltbereitschaft fest, die Hemmschwelle für Attacken im öffentlichen Raum sinkt“, räumt ein Bahnsprecher ein. Angriffe auf Mitarbeiter hätten deutlich zugenommen. Besonders gefährlich ist es für die Zugbegleiter laut Statistik in den späten Schichten. Von 12 bis 18 und von 18 bis 24 Uhr. Vor allem am Wochenende.

„Heute wird ein guter Tag“

„Man geht mit einem mulmigen Gefühl da rein“, sagt Herr Werner. Aber er will nicht, dass das so ist, dass das schlechte Gefühl stärker ist als alles andere. „Ich gehe zur Arbeit und sage mir jeden Tag aufs Neue: Heute wird ein guter Tag.“ Wird es nicht immer.

Frau Klaus fühlt sich in den vergangenen Wochen etwas besser. Sie darf nun offiziell Pfefferspray bei sich tragen, es zur Notwehr benutzen. In einem zweitägigen Seminar hat man sie darüber aufgeklärt, was das bedeutet, wann sie es wie einsetzen kann und darf. Nutzt sie es, muss sie die Notwehrsituation nachweisen. Sie sagt: „Wir brauchen unbedingt Sicherheitspersonal auf den Zügen.“ Auf manchen Linien gibt es das schon. Es trägt stichsichere Schutzwesten.