Hagen/Soest. . 20 Millionen Ferkel werden pro Jahr die Hoden ohne Betäubung kastriert. Warum das überhaupt nötig ist und welche Alternativen es gibt.
Die Empörung bei den Tierschützern war groß, als die schwarz-rote Koalition Anfang Oktober beschloss, die Ferkel-Kastration ohne Betäubung, die ab Januar 2019 verboten werden sollte, für zwei weitere Jahre zu erlauben.
Das sei „Verrat an den Ferkeln“, so der Deutsche Tierschutzbund. Immerhin hätten die Betriebe fünf Jahre Zeit gehabt, sich umzustellen. Die Grünen halten die Verlängerung der Frist für verfassungswidrig. Die Erzeuger dagegen vermissen eine praktikable Alternative zur gängigen Methode, bei der jedes Jahr mehr als 20 Millionen Ferkeln die Hoden mit einem Skalpell entfernt werden – ohne Narkose. Das verlangt nach Erklärungen.
Warum werden die Ferkel ohne Betäubung kastriert?
„Bei den männlichen Tieren, den Ebern, haben wir durch das Einsetzen der Geschlechtsreife ab dem vierten Lebensmonat hormonbedingt bis fünf Prozent ,Stinker’, deren Fleisch beim Braten oder Grillen einen sehr unangenehmen Geruch ausströmt. Es kann auch zu Geschmacksveränderungen führen“, erklärt Martin Ziron, Professor für Landwirtschaftliche Tierhaltung und Nutztierethologie mit dem Schwerpunkt Schweineproduktion an der Fachhochschule Südwestfalen in Soest. Warum erfolgt die Kastration ohne Betäubung? Früher war man der Überzeugung, das Schmerzempfinden der jungen Tiere sei nicht so ausgeprägt, inzwischen gibt es andere Hindernisse.
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Biobetriebe arbeiten seit mehreren Jahren mit einer Vollnarkose mit dem Inhalationsgas Isofloran, bei dem zum jetzigen Zeitpunkt allerdings ein Tierarzt anwesend sein muss. Das kostet zwei bis sechs Euro pro Tier. Die Bio-Erzeuger können allerdings höhere Preise nehmen. In Dänemark dürfen auch Landwirte, die einen entsprechenden Kurs besucht haben, Narkosen verabreichen. In den Niederlanden erfolgt die Inhalationsnarkose mittels CO2, ebenfalls durch den Landwirt. „Das ist bei uns in der Diskussion, aber noch völlig offen, ob es gesetzlich umgesetzt werden kann“, meint Ziron. Für mögliche Ausnahmeregelungen fehlen in Deutschland aktuell zugelassene Arzneimittel.
Warum ist fünf Jahre lang nichts passiert?
„Es gab viele Untersuchungen, aber wir haben nicht den goldenen Weg gefunden, der für alle Parteien einvernehmlich ist“, sagt der Wissenschaftler.
Gibt es andere Methoden?
Es gibt eine „Impfung“ mit Improvac, einer Substanz, die auf den Hormonkreislauf des Schweines wirkt, eine Art chemischer Kastration. „Zum Schlachtzeitpunkt sind die Hoden deutlich geringer entwickelt“, erklärt Ziron. Die Methode stößt insbesondere bei den Verarbeitern auf Ablehnung. In Australien und Neuseeland wird die Impfung flächendeckend eingesetzt. „Da gibt es auch nicht so viele Schweine“, gibt der Agrarwissenschaftler zu bedenken. Und eine Lokalanästhesie? Diese wird kontrovers diskutiert, aktuell ist keine Einigung in Sicht.
Wie geht es jetzt weiter?
Am 14. Dezember entscheidet der Bundestag, ob die betäubungslose Kastration länger erlaubt bleibt. Die FDP fordert eine arzneimittelrechtliche Zulassung von Isofluran für die Inhalationsanästhesie.
In Deutschland ist die Zahl Sauen haltender Betriebe von 2010 zu 2016 um knapp 50 % gesunken. Die Zahl der aus dem Ausland importierten Ferkel ist um 16 % gestiegen (vor allem aus Holland und Dänemark).
Was ist die Alternative?
Jörn F. Göbert, Geschäftsführer des größten deutschen Ferkelproduzenten (28.000 Tiere pro Woche) Landwirtschaftliche Ferkelzucht Deutschland, der viele Standorte in den östlichen Bundesländern und in Bayern unterhält, schlägt ein komplettes Verbot der Schlachtung von kastrierten Tieren vor. Das heißt: Jungebermast. Die Lösung hielte auch Martin Ziron für sinnvoll. Das Problem: „Schlachthöfe und Handel sagen: ,Die bekommen wir nicht unter.’“
Große Schlachtunternehmen verarbeiten ca. 30.000 Schweine am Tag, nur 10.000 bis 12.000 pro Woche seien momentan Jungeber. Das Aufziehen der männlichen Ferkel, die „etwas mehr Stress“ machten und ein etwas anderes Futter bräuchten, hätten die Betriebe in NRW im Griff, so Ziron.
Warum hat sich die Jungeberzucht nicht längst durchgesetzt?
Martin Ziron kennt die Zahlen aus anderen Ländern: In den Niederlanden mästen 60 Prozent der Betriebe Jungeber, aufgrund des Verbotes der betäubungslosen Kastration für den Inlandsmarkt. In Spanien sind es fast 80 Prozent Jungeber. Sie werden aber vor der Geschlechtsreife (mit 80 kg) geschlachtet. In Deutschland dagegen sei das Problem, so Sauenhalter Göbert, dass 8000 Ferkelerzeugern zehn marktdominante industrielle Schlachtunternehmen und fünf große Lebensmitteleinzelhändler gegenüber stünden: „Es ist klar, wer da sagt, wo es langgeht und was in deutschen Ställen passiert“, erklärte er gegenüber top agrar. Seine Forderung: „Jetzt müssen sich die Schlachter- und die Verarbeitungsindustrie bewegen. Entweder müssen sie noch mehr Technik zur Identifikation der Stinker investieren oder die Tiere früher mit rund 100 kg Lebendgewicht schlachten.“
Wie sinnvoll ist überhaupt eine deutsche Fleischproduktion, die allein auf den Preis setzt?
Martin Ziron ärgert sich darüber, dass mehr Tierschutz zwar von vielen Verbrauchern verlangt werde, jedoch viele nicht immer bereit seien, für den damit verbundenen Mehraufwand entsprechend mehr zu bezahlen. Das sei ein Problem für die deutschen Erzeuger, weil Spanier und Polen mit niedrigeren Tierschutzauflagen die Preise unterbieten könnten. Er plädiert deshalb für eine EU-weite Angleichung der Auflagen. In Ländern wie Schweden, Norwegen oder Finnland, die höhere Tierschutzstandards haben als Deutschland, sei die Bereitschaft höher, mehr Geld für „gute“ Lebensmittel, insbesondere Fleisch, auszugeben.