Hagen. . Wie uns die variierte Wiederkehr des Immergleichen anzieht: Hagener Wissenschaftler untersucht Idyllen und Kitsch in Literatur, Film und TV.

Die Älteren dürften noch den Ausdruck „Schäferstündchen“ für eine erotische Begegnung kennen. Und die Gebildeten wissen, wo er herkommt: Er bezieht sich auf die „Schäferdichtung“ des 17. und 18. Jahrhunderts. Und die wiederum bezieht sich auf Vorbilder in der Antike, weiß Nils Jablonski und zieht zugleich eine Linie von der Literatur bis zum „Traumschiff“ und zu „Titanic“. Der wissenschaftliche Mitarbeiter an der Fernuniversität in Hagen hat seine Dissertation zur Idylle in Literatur, Film und Fernsehen geschrieben.

Was ist eine Idylle?

Nils Jablonski: Ein kurzer Text, in dem eine beschauliche Naturszenerie dargestellt wird. Die Ursprünge dieser Gattung reichen bis in die Antike zurück: In einer lieblichen Landschaft kommen Hirten zum Gesangswettstreit zusammen. Idyllen finden sich allerdings auch im Roman oder in Filmen und Fernsehserien. Das untersuche ich in meiner Dissertation anhand der Künstlichkeit, der Medialität und der Serialität der Idylle.

Auch „Das Traumschiff“ ist eine Idylle?

Ja, diese Fernsehserie ist das Paradebeispiel. Dabei sind nicht nur die Orte, zu denen die Schiffsreise geht, idyllische Sehnsuchtsziele. Auch das Schiff selbst kann auf Grund seiner räumlichen Abgeschiedenheit von der Welt als schwimmende Idylle auf See aufgefasst werden, wo die Reisenden ihre Alltagssorgen zumindest für kurze Zeit vergessen und es sich gut gehen lassen.

Ist das nicht langweilig?

Der Langeweile wird zweifach vorgebeugt: Durch immer neue Figuren und die wechselnden Reiseziele, von denen nur die schönen Seiten gezeigt werden. Das ist eines der wesentlichen Merkmale, die Idylle und Kitsch miteinander teilen: Die Präsentation einer vereinfachten, mithin zwangsharmonisierten Welt, in der alle Konflikte nur scheinhaft und alle Probleme nur Missverständnisse sind. Dazu kommt eine Liebesgeschichte. Sie verläuft immer nach demselben Schema: Zwei Passagiere verlieben sich. Jedoch können sie auf Grund von vermeintlichen Problemen zunächst nicht als Liebespaar zusammen sein. Während der Reise kommt es zur Auflösung dieser Probleme, so dass jede Episode mit einem Happy End schließt. Das ist das obligatorische Ende für jede Kitscherzählung. „Das Traumschiff“ zeichnet sich also durch eine variierte Wiederkehr des Immergleichen aus. Das ist wie beim Krimi, denn auch dort ist das erzählerische Muster stets dasselbe: Eine Leiche wird gefunden und was folgt, ist die Aufklärung darüber, wie es zu diesem Mord gekommen ist und mit welchen raffinierten geistigen Kniffen oder aber waghalsigen Verfolgungsjagden die Ermittelnden den Täter oder die Täterin dingfest machen.

Ist das nicht nur schlechte Kunst?

Werturteile über Kunst hängen vom den jeweils vorherrschenden ästhetischen Präferenzen ab. So urteilt beispielsweise Schiller über die Idyllen-Dichtung seiner Zeit, dass sie „bei dem höchsten Gehalt für das Herz allzu wenig für den Geist“ bieten würde. Wenn Schiller den Begriff bereits gekannt hätte, dann hätte er in Bezug auf die zu seiner Zeit sehr populären Idyllen sicherlich vom Kitsch gesprochen. Aber diesen Begriff gibt es erst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und er steht für das, was der dominierende Zeitgeschmack für ‚schlechte‘ Kunst und schlichte Unterhaltung hält. Mit einer solch wertenden Unterscheidung kommt man wissenschaftlich aber nicht weit. Man müsste eher von schlecht gemachter Kunst sprechen und die ästhetischen Verfahrensweisen untersuchen. Mit dieser Perspektive wird es möglich, Idyllen sowohl im Groschenroman als auch etwa in Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ unvoreingenommen zu untersuchen.

Oder auch im Film „Titanic“. Wo bleibt da die liebliche Landschaft?

Obwohl der Film keine lieblichen Landschaften zeigt, kann man ihn trotzdem als Idylle begreifen. Sie konstituiert sich nämlich stets im Spannungsfeld von Kitsch und Katastrophe. „Titanic“ präsentiert beides: Der Film verkoppelt die historische Katastrophe vom Untergang des Schiffes mit einer absolut kitschigen Liebesgeschichte.

Der aber das Happy End fehlt.

Das stimmt, weil die beiden Protagonisten des Films am Ende nicht ihr gemeinsames Glück finden: Jack stirbt im eiskalten Wasser und Rose wird gerettet. Ihr Happy End besteht darin, dass sie nicht die für sie ursprünglich arrangierte Ehe eingehen muss. Außerdem kann sie sich so aus den sie einengenden gesellschaftlichen Zwängen befreien. Die Begegnung mit Jack führt für Rose also zu ihrer Emanzipation und zu einer selbstbestimmten Existenz. Jacks Tod hat deshalb zwei Funktionen: Einerseits ist es ein dramaturgisches Zugeständnis, um die Geschichte nicht allzu märchenhaft wirken zu lassen. Andererseits kann der Film so das für den Kitsch typische Ideologem der einzig wahren Liebe inszenieren, die auch über den Tod hinaus besteht. Das vermittelt ja auch schon das von Céline Dion gesungene Titellied „My Heart Will Go On“. Jacks Tod stellt also einen Verstoß gegen die Konventionen der Kitscherzählung dar und bewirkt gleichzeitig deren Bestätigung und Stabilisierung.

Abweichungen halten das Genre interessant?

Genres sind zugleich stabil und bis zu einem bestimmten Punkt variabel. Werden die Schemata dann sogar aufgebrochen, ist das durchaus ein Qualitätsmerkmal und eine Form der Selbstreflexion, die neue Perspektiven eröffnet.

So wie in Quentin Tarantinos „Pulp Fiction“?

Genau, der Film ist ja ein reflexives Spiel mit den Schemata der im Deutschen als Schund bezeichneten Literatur und ihren Konventionen.

In manchen Filmen wird Kitsch produziert und gleichzeitig ironisch gebrochen. Wie kann das klappen?

Das Hollywood-Kino funktioniert auf verschiedenen Ebenen, weil es möglichst viele Ansprüche möglichst vieler Zuschauerinnen und Zuschauer befriedigen will. Mit Umberto Eco lässt sich das anhand der konzeptuellen Unterscheidung vom naiven und kritischen Leser erfassen: Der eine folgt gespannt der Handlung, der andere genießt den Umgang mit den Schemata. Wer beide erreicht, hat ein größeres Publikum. Das funktioniert sogar beim „Traumschiff“: In der aktuellen Episode von Neujahr sehen wir eine Szene, in der ein Passagier, der Stuntman werden will, sich an den Bug des Schiffes stellt, die Arme ausbreitet und ruft: „Ich bin der König der Welt.“ Wer „Titanic“ gesehen hat, erkennt das Zitat. Allen anderen wird später der Bezug auf den Hollywood-Film durch die Figuren erklärt.

Mögen Sie Kitsch?

Ich halte es mit Susan Sontag, die über den von ihr untersuchten und dem Kitsch verwandten Camp sagt, dass sie davon gleichzeitig angezogen und abgestoßen sei. Man muss kein Fan sein, um ein kulturelles Phänomen zu untersuchen, egal ob man es nun für seriös oder rein unterhaltend hält. Als Wissenschaftler ist man immer beides: naiver und kritischer Leser zugleich. Darin liegt ja auch der besondere Reiz meiner Arbeit mit der Idylle und dem Kitsch.