Hagen. . Die sexuelle Belästigung von Jugendlichen im Internet stetig nimmt zu. Wie eine Jugendliche aus Südwestfalen im Netz zum Opfer wurde.
„Cyber-Grooming!?“ Kinderschutzzentren und Präventionsexperten der Polizei horchen bei dem Begriff, der frei übersetzt Internet-Anbahnungen bedeutet, auf.
Er umschreibt, wie sich meist erwachsene Täter an Kinder und Jugendliche heranmachen, ihr Vertrauen gewinnen und sie dann zu sexuellen Handlungen treiben.
WhatsApp und Co. – sexuelle Belästigung im Netzt nimmt zu
Diese Form der sexuelle Belästigung im Netz nimmt zu – und mit ihr die Zahl der traumatisierten Heranwachsenden. Die Experten aus Südwestfalen, mit denen diese Zeitung sprach, fordern, dieses Thema mehr als zuvor ins öffentliche Bewusstsein zu rücken.
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Ihrer Ansicht nach sind Eltern und Lehrer im Umgang mit den Gefahren bei WhatsApp, Snappchat, Skype und Co. „absolut überfordert“.
Jugendliche in unbeobachteten Dialog gelockt
Mia aus Arnsberg (Name, Alter und Stadt von der Redaktion geändert) ist 14 Jahre alt. Ein Mädchen, das von einem eigenen Pony träumt und noch keinen Freund hat.
Im Januar beginnt sie, mit einem Jungen auf einer Seite zu chatten, die den Namen eines Kuscheltiers trägt. Nach drei Tagen verlässt sie den moderierten Chat und wechselt in einen unbeobachteten Dialog mit dem vermeintlich einen Jahr älteren Jungen.
Internetbekanntschaft erschleicht sich Vertrauen
Der Junge ist immer auf ihrer Seite, tadelt die strengen Regeln der Eltern, teilt ihre Begeisterung für das Buch „Herr der Ringe“. Schnell vertraut Mia der Internetbekanntschaft ihre Geheimnisse an.
Die Kamera am PC läuft. Der Junge schwärmt von ihrer Modelfigur. Nach drei Wochen möchte er wissen welche Unterwäsche sie trägt. Bei der nächsten Sitzung fordert er sie auf, ihren Pullover auszuziehen. Alles bleibe „unter uns“.
Nacktbilder von Schülerin landen im Netz
Als er sie beim nächsten Mal fragt, ob sie sich für ihn selbst befriedigen könnte, weigert sie sich. Ab diesem Zeitpunkt erpresst er sie. Er droht, ihre Nacktfotos ins Netz zu stellen.
Er habe alle Kontaktdaten ihrer Freunde. Tag und Nacht belästigt er sie. Eine Woche später ist der Spuk vorbei. Sie offenbart sich ihren Eltern, ihre Nacktbilder landen im Netz. Zwei Monate lang traut sich Mia nicht in ihre Schule. Erst als sie psychologische Hilfe in Anspruch nimmt, wagt sie sich wieder ins Leben.
Tausende Mädchen und Jungen in Deutschland betroffen
So wie Mia sind Tausende von Mädchen und Jungen in Deutschland betroffen. „Die Gefahr der sexuellen Ansprache im Netz ist groß“, erzählt Kriminalhauptkommissarin Sonja Siebel, zuständig für Sexualdelikte im Kreis Siegen-Wittgenstein.
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Sie berichtet von bis zu zwei Fällen die Woche. „In einer Woche haben wir keinen Fall, in der nächsten zwei.“ Sie ärgert es, wie ahnungslos Eltern mit der Gefahr umgingen. Die Kinder und Jugendliche könnten nicht einschätzen, was es bedeutet, wenn ihre Nacktbilder aus vergangener Zeit immer wieder im Netz auftauchen.
Eine Befragung in Österreich (Studie der SOS Kinderdörfer) hat 2017 ergeben, das jedes vierte Kind im Netz bereits sexuell belästigt worden ist.
Aufklärungsquote bei WhatsApp höher
Das Bild des alten, schmierigen Mannes, der im Halbdunkeln vor seinem Rechner sitzt, sei nicht realistisch, so Sonja Siebel. Immer öfter seien es Männer im Alter zwischen 20 und 30 Jahren. „Sie geben vor, nur zwei, drei Jahre älter zu sein.“
Die Kriminalstatistik aus dem Jahr 2017 bestätigt Siebels Angaben: Demnach sind 65 Prozent unter 30 Jahre alt, 25 Prozent sind selbst Jugendliche. Die Aufklärungsquote hängt laut Experten von der Plattform ab. Bei WhatsApp sind die Handydaten hinterlegt, dort ist sie höher.
Eltern unterschätzen häufig die Gefahr
Kriminalhauptkommissarin Petra Landwehr ist im Kreis Unna für die Kriminalprävention und den Opferschutz zuständig. Sie kritisiert, wie Eltern mit dem Problem umgehen: „Viele von ihnen sind selbst auf Facebook unterwegs. Sie müssten nur den eigenen Gebrauch hinterfragen.“
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Das aber würden sie nicht machen. Die Mütter und Väter überließen es den Pädagogen in den Schulen. „Aber die Lehrer sind überfordert.“
Deshalb fordert sie: „Medienkompetenz sollte in den Schulen Pflichtfach sein.“ Sonja Siebel geht noch einen Schritt weiter: „Das Thema gehört bereits in die Kindergärten.“ Eltern empfiehlt sie, sich die Handys ihrer Kinder genau anzuschauen und frühzeitig ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, damit man sie auch als Jugendliche noch erreicht. „Dazu muss man mit ihnen reden, reden, reden...“
Europol-Video verdeutlicht die Gefahren
Stefan Didam, Kriminalhauptkommissar im Hochsauerlandkreis, ist für Cyber-Crime zuständig. Er ist oft in Schulen unterwegs. Er empfiehlt zur Abschreckung ein Video von Europol, das die Gefahren durch Cyber-Grooming verdeutlicht. Zu finden ist es unter polizei.nrw/artikel/cyber-grooming .
Wie können Kinder und Jugendliche erkennen, ob es sich um Cyber-Grooming handelt? Laut Experten gibt es verräterische Hinweise. „Zum Beispiel wenn Unbekannte auffällig viele Komplimente machen, sehr schnell videochatten wollen und oft fragen, ob man alleine ist, sollte man misstrauisch werden“, empfiehlt Jeanine Rücker von dem bundesweit agierenden Kinder- und Jugendhilfeverein „Nummer gegen Kummer“ mit Sitz in Wuppertal.
Täter agieren mit Fake-Profilen
Die Täter versteckten sich oft hinter sogenannten Fake-Profilen. Laut Experten könnte es hilfreich sein, die Person am anderen Ende der Leitung aufzufordern, spontan ein außergewöhnliches Foto von sich zu schicken. Er oder sie sollten zum Beispiel einen Apfel über den Kopf halten. Schicke die Person das Foto rasch, sei die Wahrscheinlichkeit groß, dass es kein Fake-Profil ist.
Jeanine Rücker findet den Tipp gut. Sie warnt trotzdem, Klarnamen und mehr preiszugeben. 2017 hätten die Berater 600 mal Gespräche geführt, die Probleme im Internet thematisieren. Viele der Betroffenen litten bis heute unter „Cyber-Grooming“.