Siegen. . Warum der Siegener Gesundheitssoziologe Claus Wendt eine Bürgerversicherung, wie sie die Union ablehnt, für gerecht und zukunftsorientiert hält.
Die Gesundheitspolitik gehörte gestern bei den Koalitionsverhandlungen zu den letzten umstrittenen Themen. Klar war aber lange vorher: Die SPD würde ihre Forderung nach einer Bürgerversicherung nicht durchsetzen können – obwohl eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung das wünscht. Zu der gehört auch Claus Wendt (49), Professor für Gesundheitssoziologie an der Uni Siegen.
Was spricht aus Ihrer Sicht für eine Bürgerversicherung?
Claus Wendt: Die Gerechtigkeit. Deutschland hat eine Zweiklassenmedizin. Wir sind das einzige Land in Europa, in dem es möglich ist, sich außerhalb des öffentlichen Gesundheitssystems über eine private Vollversicherung gegen Krankheitsrisiken abzusichern.
Was ist so schlimm daran?
Das System bevorzugt bestimmte Gruppen, ohne dass sich dies anders als historisch begründen lässt.
Erklären Sie.
Höhere Einkommensgruppen, Selbstständige und Beamte genießen Privilegien wie kürzere Wartezeiten beim Facharzt und beteiligen sich nicht an der Solidarität innerhalb der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Wer ein monatliches Einkommen oberhalb der Pflichtversicherungsgrenze von 4950 Euro hat und freiwillig in der GKV bleibt, weil er Kinder hat, profitiert von der Beitragsbemessungsgrenze von 4425 Euro. Bis dahin zahlen alle GKV-Versicherten 14,6 Prozent ihres Einkommens in die Solidargemeinschaft. Wer 8850 Euro verdient, zahlt aber nur 7,3 Prozent.
Schüfe eine Bürgerversicherung nicht eine Einheitskasse auf Kosten des Wettbewerbs?
Keinesfalls. Der Wettbewerb unter den gesetzlichen Kassen ist größer als unter den Privatversicherungen, denn wer erst zehn Jahre in einer Privatkasse ist, wechselt kaum noch. In einer Bürgerversicherung bliebe die Vielfalt der Kassen erhalten, und die Privaten würden nicht abgeschafft, sondern könnten Zusatzversicherungen anbieten. In Österreich fließt darüber sehr viel Geld in die Privaten.
Österreich ist anders organisiert?
Die Soziale Krankenversicherung dort wurde einst nach deutschem Vorbild entworfen, nach dem Krieg aber umgebaut. Jetzt ist die gesamte Bevölkerung Teil der Solidargemeinschaft. Der Beitragssatz liegt heute bei 7,65 Prozent und damit deutlich niedriger als in Deutschland, ohne dass das Niveau der medizinischen Leistungen geringer wäre. Das liegt auch an einer höheren Beitragsbemessungsgrenze von 5100 Euro und an einem Steuerfinanzierungsanteil von 30 Prozent der Gesundheitsausgaben. In Deutschland sind es weniger als 10 Prozent.
Wäre ein Umbau nicht schwierig?
Natürlich braucht man Übergangsregelungen. Aber die Niederlande haben so einen Umstieg vor zehn Jahren bewältigt. Daran könnte man sich orientieren.
Und was ist mit den Ärzten, die angeben, die höheren Honorare der Privatkassen zu brauchen?
In Österreich geht es den Ärzten auch nicht schlechter. Die deutschen würden ebenfalls von Zusatzversicherungen profitieren.
Warum ist der Widerstand so groß?
Die Lobbygruppen der Ärzte, der Versicherungen und der Pharmaindustrie sind sehr mächtig, die gesetzlichen Kassen sind sich nicht einig, und viele Menschen kennen sich einfach nicht aus. Zudem sind die meisten Politiker beamtenrechtlich abgesichert und dürften kein Interesse haben, ihre eigenen Privilegien abzuschaffen.
Wie sind Sie versichert?
Als Beamter privat mit Beihilfe. Lieber wäre ich wie vorher in der GKV, das ist weniger kompliziert.
Und wie sehen Sie die Zukunft über die GroKo hinaus?
Das Gesundheitssystem muss gerechter werden, weil nur mit Hilfe aller gesellschaftlichen Gruppen die demografischen Herausforderungen zu bewältigen sind. Und eine höhere Steuerfinanzierung ist wichtig, weil dadurch kapitalintensive Unternehmen an der Finanzierung beteiligt sind. Das ist auch im Hinblick auf technische Entwicklungen – Stichwort: Roboter – notwendig.