Hagen. . Der ehemalige Hagener Polizeidirektor nimmt Einladungen nach Istanbul nicht an. Türkei-Experte Liedtke sieht die Macht von Erdogan zerbröseln.

  • Ehemaliger Hagener Polizeidirektor nimmt Einladungen nach Istanbul nicht an
  • Türkei-Experte Liedtke sieht die Macht von Staatspräsident Erdogan zerbröseln
  • Sorge um bürgerkriegsähnliche Zustände in naher Zukunft

Das deutsch-türkisch Verhältnis ist belastet. Auf die Verhaftung eines deutschen Menschenrechtlers in Istanbul hat die Bundesregierung mit einer Verschärfung der Reisehinweise und einer Kursänderung bei Bürgschaften für deutsche Unternehmen, die in der Türkei investieren wollen, reagiert. Bernd Liedtke, Türkei- und Integrationsexperte, erklärt im Interview mit der WESTFALENPOST die gegenwärtige Lage.

Bundesfinanzminister Schäuble vergleicht die Türkei mit der DDR. Hat er Recht?

Bernd Liedtke: Nein. Die Mitglieder der Bundesregierung sollten aufhören, Erdogan nachzueifern. Was sollen diese Vergleiche bewirken? Sie bringen nur weitere Schärfe hinein. Mir fällt dazu aber was ganz anderes ein.

Und das wäre?

Liedtke: Ich verweise auf ein Zitat von Otto von Bismarck aus dem Jahr 1871. Der Reichskanzler sagte: ,Die Liebe der Türken und Deutschen zueinander ist so alt, dass sie niemals zerbrechen wird.’ Dieses Zitat gilt, und daran sollten wir uns erinnern.

Warum?

Liedtke: Das Verhältnis von Türken und Deutschen ist von gegenseitigen Verletzungen geprägt. Die Türken haben, so meine Wahrnehmung, gegenüber den Deutschen einen Minderwertigkeitskomplex. Final kommt das jetzt durch Erdogan zum Ausdruck.

Haben Sie eine Erklärung dafür?

Liedtke: Erdogan sieht seine Macht zerbröseln. Und das weiß er auch. Beim Verfassungsreferendum haben 46 Prozent gegen ihn gestimmt. Und beim großen Gerechtigkeitsmarsch von Istanbul nach Ankara waren merkbar auch viele AKP-Leute dabei. Er scharrt seine Anhänger mehr denn je um sich.

Mit welchen Folgen?

Liedtke: Er instrumentalisiert die Türken und Türkeistämmigen für seine politischen Zwecke. Das ist schäbig. Ich sehe ihn nicht als stabilen Staatspräsidenten. Die türkische Gesellschaft ist von hohem Angstpotenzial geprägt. Die Menschen können sich nicht frei äußern. Hinter jeder Ecke vermuten sie jemanden, der sie denunzieren könnte.

In Folge der Säuberungswellen sind mehr als 200 000 Staatsbedienstete entlassen worden Wie kann das Land noch funktionieren?

Liedtke: An jeder Entlassung hängen drei, vier Leute. Die Familienbande funktionieren. Die Menschen werden aufgefangen und verhungern nicht. Lange geht das dennoch nicht gut. Daraus wird ein immenses Protestpotenzial erwachsen. Wenn ein Polizist in der Türkei von heute auf morgen entlassen und sein Name im Amtsblatt veröffentlicht wird, bekommt er kein Bein mehr auf die Erde.

Ist das klug von Erdogan?

Liedtke: Nein. Das Protestpotenzial baut sich auf. Erdogan führt das Land in eine schwere Krise. Am Ende gibt es einen Bürgerkrieg. Nach dem Putsch hat er seine Kader mit Waffen ausgestattet. Selbst in den Moscheen gibt es Beauftragte, die Waffen tragen. Diese Strategie ist besorgniserregend. Man muss sich große Sorgen machen.

Verschärfte Reisehinweise: Das müssen Türkei-Urlauber jetzt wissen

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    Der Staatspräsident betreibt sehenden Auges seinen Untergang?

    Liedtke: Absolut. Er reißt damit nicht nur seine Partei, sondern viele, viele Menschen mit. Das darf uns hier in Deutschland nicht ruhig lassen. Mit hörbaren Forderungen wie raus aus dem Europarat, raus aus der Nato und Abbruch der diplomatische Beziehungen und dem Stopp der EU- Beitrittsverhandlungen wird nichts erreicht. Wir sollten uns mehr Sorgen über die Türkeistämmigen bei uns machen. Sie werden mitgezogen, über Organisationen wie die Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD): Die indoktrinieren doch!

    Der Verfassungsschutz hat eine Ausweitung der Spitzeltätigkeiten des türkischen Geheimdienstes MIT registriert ...

    Liedtke: Offiziell geht man von 6000 Spionen aus, ich bin davon überzeugt, die Zahl liegt viel höher. Die Spaltung der Gesellschaft in der Türkei setzt sich hier fort. Der hohe Organisationsgrad der UETD und der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (DITIB) spielen eine große Rolle. Die Leute werden schon beim Einkaufen im Supermarkt angesprochen. Es gibt viele Akteure, die das, was Erdogan in der Türkei will, hier vollziehen.

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    Werden die Türkeistämmigen eingeschüchtert?

    Liedtke: Selbstverständlich. In einem hohen Maße. Ich möchte das Dunkelfeld gar nicht aufhellen über das, was da gerade passiert. Deshalb ist es wichtig, dass wir den Dialog zu den Türkeistämmigen, die meistens ja auch Deutsche sind, intensivieren. Sie sind ein Teil von uns, sie gehören zum deutschen Wir.

    Warum hat Erdogan Deutschland im Visier?

    Liedtke: Hier leben die meisten der Euro-Türken. Er sieht die Chance, aus der Minderwertigkeit herauszukommen und will es den Deutschen einmal zeigen.

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    Würden Sie im Moment in die Türkei reisen?

    Liedtke: Nein. Ich habe zwei Einladungen nach Istanbul abgelehnt. Ich möchte mich nicht wichtiger machen als ich bin, aber ich fühle mich nicht sicher.

    Was raten Sie den Urlaubern?

    Liedtke: Von einem Boykott der Touristen gegenüber der Türkei halte ich nichts. Wem soll das nützen? Die Türkei ist nicht Erdogan. Wichtig ist, dass wir das wissen.