Dortmund. . Mit dem in den Niederlanden entwickelten „Labyrinth Psychotica“ können gesunde Menschen eine Psychose am eigenen Leib erfahren.
600 000 bis 800 000 Menschen in Deutschland leiden an einer schweren psychischen Störung (Psychose), verbunden mit einem Realitätsverlust. In Einzelfällen werden Erkrankte zu Straftätern. Um diese Menschen effektiv im Maßregelvollzug zu therapieren und ihr Verhalten einzuschätzen, könnte es von enormen Vorteil sein, wenn das Pflegepersonal weiß, wie sich eine Wahnvorstellung anfühlt. In der kommenden Woche wird auf der vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) veranstalteten Bundeskonferenz der forensisch-psychiatrischen Pflege in der Dortmunder Zeche Zollern erstmals das niederländische „Labyrinth Psychotica“ in Deutschland vorgestellt – das von der Künstlerin Jennifer Kanary Nikolov entwickelte Projekt arbeitet mit Simulationsanzügen und einem Erfahrungsparcours. Wir hatten vorab die Gelegenheit, die Simulation einer Psychose am eigenen Leib nachzuempfinden.
„Das Rückenteil des Simulationsanzuges, das mir Jennifer Kanary Nikolovs Mitarbeiterin Linda Maissan anlegt, erinnert an den Raketenantrieb, mit dem 007 James Bond gerne abhob. Die überdimensionale, futuristische Brille, die mir aufgesetzt wird, würde jeder Computermesse zur Ehre gereichen. „Hast Du öfters Kopfschmerz oder Bluthochdruck?“ fragt mich Linda. Nachdem ich dies verneine, schiebt sie noch hinterher: „Die Benutzung ist auf eigene Gefahr.“ Mit einem Knopfdruck auf der Fernbedienung in meiner rechten Hand bin ich in einer anderen Welt.“
Schicksalsschlag in der Familie
Die kanadisch-niederländische Künstlerin Jennifer Kanary Nikolov kam durch einen Schicksalsschlag zu dem Projekt „Labyrinth Psychotica“. Ihre Schwägerin erkrankte an Schizophrenie und brachte sich um. „Ich wollte die Krankheit begreifen.“
„Ich sehe einen verzerrten Flur, auf dem sich Türen blitzschnell öffnen und wieder schließen. Das Stimmengewirr lässt sich nicht zuordnen. Meine Füße tragen mich über den Endlos-Gang. Die Szene endet abrupt - es flackert wie bei einer Bildstörung im TV. Eine Stimme aus dem Off fordert mich auf, weiter zu gehen, während Linda neben mir mich mit vermeintlich banalen Fragen im Gespräch hält: „Was siehst Du?“ Zeitweise überlappen sich die mal befehlenden, mal kommentierenden Stimmen aus dem Off und die Frauenstimme neben mir. Man ahnt, wie es sich bei einem psychisch kranken Menschen anfühlt, wenn Realität und Fiktion verschwimmen, wenn im Erleben ein ständiges Durcheinander herrscht.“
Von Außerirdischen verfolgt gefühlt
„Psychosen sind schwer vorstellbar“, sagt Tillmann Hollweg, LWL-Maßregelvollzugsdezernent und von Hause aus Psychologe und Psychotherapeut. Er hat Patienten erlebt, die sich von Außerirdischen verfolgt fühlten oder sich als CIA- Chef sahen. 400 Menschen mit Gefährdungspotenzial sind derzeit nach einer gerichtlichen Unterbringung in einer LWL-Klinik im Maßregelvollzug. „Grundsätzlich sind viele Psychosen gut zu behandeln“, so Hollweg. Dazu bedarf es u.a. gut qualifizierten Pflegepersonals. „Diese Kräfte sind wichtige Ansprechpartner der Patienten.“
„Ich bin wie ferngesteuert, ständig in Bewegung, könnte aber nicht sagen, wie weit ich schon unterwegs bin. Lindas Stimme hört sich dumpfer an als vorher. Vor meinem geistigen Auge sehe ich rechts und links Beton. Ist dies real? Die Stimme im Off sagt mir, dass ich einen Schritt vor, einen Schritt zurück gehen soll, und dann zur Seite, in immer schnellerer Abfolge. Linda hält mich am Arm fest. „Du kannst nicht zur Seite.“ Als das Experiment vorbei ist, sehe ich, dass wir ein Betonrohr passiert haben.“
Pflege hat sich massiv verändert
Für Bernd Sternberg, Pflegedirektor im LWL-Zentrum für Forensische Psychiatrie Lippstadt, hat sich die Pflege seit den 1970er-Jahren massiv verändert: „Damals ging es ums Versorgen, heute ums Therapieren.“ Nur mit einer gewissen Nähe zum Patienten könne man Veränderungen wahrnehmen, um präventiv reagieren zu können.
„Die Stimmen und die Geräusche werden lauter. Sie verlieren jeden Zusammenhang. Mein Blick bleibt auf schnell wechselnden Sequenzen hängen, die wie Farbkleckse oder Stofffetzen aussehen. Eine Reizüberflutung, ein Chaos in der Wahrnehmung. Die Gedanken sind außer Kontrolle. Nach 15 Minuten ist das Programm beendet. Eine ungewöhnliche, vielleicht sogar irre Erfahrung. Viel realer als eine Computersimulation in einem 3-D-Kino.“