Hagen. . Erst seit wenigen Jahren beschäftigen sich Forscher mit den Erlebnissen der zwischen 1930 und 1940 Geborenen: Bomben, Flucht, Vertreibung.
- Die Erlebnisse der zwischen 1930 und 1940 Geborenen: Bomben, Flucht, Vertreibung
- Öffentlichkeit und Forschung kümmern sich erst seit wenigen Jahren um die Geschichten
- In der Hektik des wiederaufbaus wurde viel verdrängt
Im Krieg war keine Zeit. Da ging es ums Überleben. Und danach um den Wiederaufbau. Da konnte und wollte man sich nicht mit möglicherweise traumatisierenden Erlebnissen befassen, mit Bombenangriffen, dem Anblick von Tod oder Vergewaltigung, mit Flucht und Vertreibung, mit dem Aufwachsen ohne den vermissten oder gefallenen Vater. Deutlicher wurden die Probleme der Kriegskinder, der zwischen 1930 und 1940 geborenen, die heute in den 70ern und 80ern sind, bei ihrem Ausscheiden aus dem Berufsleben, als sie nicht mehr funktionieren mussten. Körperliche Beschwerden traten auf, Depressionen, die Schatten des Krieges wuchsen.
42 ausführliche Interviews
Vielleicht ist das Schicksal der Kriegskinder deshalb erst Anfang der 2000er Jahre ins Bewusstsein der Öffentlichkeit und der Wissenschaft geraten. Es erschienen Bücher zum Thema und es gründete sich der gemeinnützige Verein Kriegskinder e.V., der unter anderem ausführliche Interviews mit Betroffenen führte, in denen sie ihre Lebensgeschichten erzählen. 42 insgesamt. Und die hat der Verein gestern an das Archiv „Deutsches Gedächtnis“ übergeben. Das gehört zum Institut für Geschichte und Biographie der Fernuniversität Hagen und enthält inzwischen rund 3000 durchschnittlich dreieinhalbstündige Interviews mit Zeitzeugen, die seit den frühen 1980er Jahren aufgezeichnet wurden, sowie Autobiographien, Tagebücher und Briefe.
Bericht als Mahnung für den Frieden
Warum ist es wichtig, Erlebnisse zu sammeln, obwohl Millionen andere Menschen Schlimmeres erlebten und auch heute Millionen Schlimmeres erleben? „Die junge Generation soll sich klar werden, dass 70 Jahre Frieden nicht von alleine kommen“, sagt Zeitzeuge Manfred Hübner. „Die Spätfolgen gehen immer weiter“, weiß Zeitzeugin Marianne Pollich. Monika Weiß, Vorsitzende des Vereins Kriegskinder e.V. betont: „Wir müssen uns fragen, was wir aus den Erfahrungen von damals lernen können für die Kriege von heute, für Syrien, Afghanistan, Jemen. Die Zeugenaussagen sind eine Mahnung für den Frieden.“ Psychoanalytiker Bertram von der Stein, stellvertretender Vorsitzender des Vereins: „Nach der manischen Flucht ins Wirtschaftswunder geht die Verdrängung bis heute weiter. Die Tendenz in Altenheimen ist: herunterspielen. Da kommen Verletzungen zum Vorschein, die zu oft als Demenz abgehakt werden.“ Historikerin Karin Orth: „Es ist wertvoll, dass Lebensgeschichten bewahrt werden.“ Marie-Theresia Freifrau von Lüninck, Schatzmeisterin des Vereins, Jahrgang 1956: „Wir wurden von Gestörten erzogen. Das muss klar ins Bewusstsein.“
Und was allen wichtig ist: Dass noch mehr Menschen aus der Kriegskinder-Generation ihre Geschichten erzählen. Bald. „Die Zeit drängt“, sagt Monika Weiß. Ihr Verein will weitere Interviews aufzeichnen, gern auch mit Menschen, die nicht aus dem Bildungsbürgertum stammen. Den Kontakt vermittelt die Fernuniversität unter presse@fernuni-hagen.de.
Prof. Frank Hillebrandt, Dekan der Fakultät Kultur und Sozialwissenschaften, zeigte sich erfreut über die – auf zwei Festplatten gespeicherten – neuen Dokumente und stolz auf Archiv und Institut insgesamt: „Angesichts der immer wachsenden Datenmengen, wird es immer wichtiger, kompetent damit umzugehen und sie für die Forschung richtig aufzubereiten.“
Zwei, die Auskunft gaben, waren gestern dabei: Marianne Pollich wurde 1940 in Cottbus geboren; ihre frühesten Erinnerungen sind die von der Flucht im Februar 1945. Der letzte Zug aus der Stadt. Zurück blieb eine riesige Menschenmasse, die es nicht geschafft hatte. Intensive Bilder. Aber immer hieß es: Ihr habt es ja gut gehabt. Ihr seid gerettet worden. Marianne Pollich, die als Psychotherapeutin arbeitete und heute in Erkrath lebt, brauchte lange, um sich darüber klar zu werden, dass ihr lebenslanges Gefühl, verloren gegangen zu sein, aus ihren Erfahrungen als Vierjährige herrührte und auch ihr Bestreben, die Dinge auszuhalten, sich nicht so wichtig zu nehmen.
Manfred Hübner (81) aus Köln musste zweimal fliehen: Im Februar 1945 vor der Roten Armee aus Hinterpommern, auf einem Pferdewagen, dahinter die russischen Panzer. Und fünf Jahre später über einen zugefrorenen See aus der DDR in den Westen. Der spätere Journalist fühlt sich nicht traumatisiert, aber er hat noch alle Schwierigkeiten im Kopf, vor denen er als Flüchtling stand: „Wir waren Deutsche und kamen zu Deutschen, wurden aber nicht mit offenen Armen empfangen.“ Hat ihn das geprägt? Er empfindet das so: „Wenn man unten ist, ist es wichtig, dass man nicht liegen bleibt, sondern wieder aufsteht.“
Überlebensstrategien
Das gilt als typisch für die Kriegskinder: Sie entwickelten Überlebensstrategien, die ihnen es später oft erschwerten, ihr Leben zu genießen. Sie sind sparsam und vorausplanend, nehmen wenig Rücksicht auf eigene Bedürfnisse, trennen sich ungern von Gegenständen, die sie eventuell noch einmal brauchen könnten, sind äußerlich freundlich und innerlich misstrauisch. Und viel, von dem was sie erlebt haben, haben sie weitergegeben an ihre Kinder und Enkel.
„Dazu kommen die Folgen der nationalsozialistischen Erziehungsmethoden“, betont die Freiburger Historikerin Karin Orth, die viele der Kriegskinder-Interviews geführt hat. Könnte die in Deutschland hohe Suizidalität im Alter mit den Kriegserfahrungen zusammenhängen? Was ist in der Pflege zu bedenken? Was kann die Erforschung von Flucht und Vertreibung im Zusammenhang mit der heutigen Flüchtlingskrise bedeuten? Solche Fragen hält Orth für drängend.