Bad Fredeburg. . Die Zahl der Schüler, die mit Drogen erwischt werden, hat sich laut Polizei verdoppelt. Wie dramatisch ist die Lage wirklich?

  • Gefahren besonders für Menschen unter 21 Jahren
  • Hohe Fallzahlen könnten durch höhere Aufklärungsquote entstehen
  • Experte sieht schon seltenen Konsum als Risiko

In wenigen Jahren hat sich die Zahl der Schüler, die mit Drogen wie Cannabis erwischt werden, in Nordrhein-Westfalen verdoppelt. Das geht aus Zahlen der Landeskriminalämter und des Innenministeriums hervor, die in der vergangenen Woche öffentlich geworden sind. Ein Gespräch mit dem Suchtexperten Dr. Dieter Geyer, ärztlicher Direktor an der Fachklinik Fredeburg, über die Ursachen und Risiken.

Ist die Konsumentenzahl in Schulen tatsächlich so stark gestiegen?

Eine Verdopplung in vier Jahren – an einen solch starken Anstieg beim Konsum glaubt Dr. Dieter Geyer nicht. „Vermutlich werden nur mehr Schüler erwischt“, sagt der ärztliche Direktor der Fachklinik Fredeburg, die auf die Behandlung von Suchterkrankungen spezialisiert ist.

„Und viel schlimmer als in den Schulen ist der Konsum bei den arbeitslosen Jugendlichen: Die kiffen sich den Frust weg.“ Das Problem: „Die Schüler, die die Polizei aufgreift, nehmen meist noch andere legale und illegale Drogen wie Alkohol, Nikotin oder Amphetamine“, sagt Geyer.

Hat der Drogenkonsum also gar nicht zugenommen?

Der Cannabiskonsum hat in den vergangenen 20 Jahren deutlich zugenommen, referiert Geyer aus Studien. Seit einigen Jahren aber schwanke der Cannabiskonsum und steige nicht weiter an. Mittlerweile hätten etwa 40 Prozent der 18- bis 25-Jährigen Cannabis zumindest einmal getestet oder konsumierten gelegentlich, also ein oder zwei Mal im Jahr, höchstens ein Mal pro Monat. Fünf Prozent in dieser Altersgruppe seien regelmäßige Konsumenten, bei den 12- bis 17-Jährigen zwei Prozent.

Ein bis zwei Mal pro Jahr Cannabis – ist das ein Problem?

Für Jugendliche durchaus, sagt der Neurologe und Psychiater. Sie haben ein höheres Gefährdungs­risiko als Erwachsene. „Das Gehirn ist erst im Alter von 21 bis 24 Jahren ausgereift“, sagt Dieter Geyer. ­Mithin ­werden Jugendliche viel schneller abhängig und sie entwickeln rascher Psychosen.

„Und jugendliche Gehirne entwickeln relativ häufig Störungen im Kurzzeitgedächtnis“, sagt Dieter Geyer. „Die Jugendlichen werden schnell ausbildungsunfähig, schaffen die Schule und die Lehre nicht mehr“, erzählt er von seinen Patienten. Er warnt: „Unter 21 Jahren ist jeglicher Konsum riskant.“

Warum ist die Zahl der Konsumenten gestiegen?

Da sind zum einen die Probleme zu Hause. „Jugendliche aus gebrochenen Familien sind viel stärker gefährdet als andere“, sagt Dieter Geyer. Da ist zum zweiten die Fehleinschätzung der Gesellschaft. „Cannabis wird unterschätzt“, sagt Geyer. So seien die Cannabis-Produkte heutzutage viel konzentrierter und vier Mal so stark wie in den 70er Jahren, so der Experte. „Cannabis ist heute keine weiche Droge mehr“, betont er.

Zitate von Eltern, Schülern, Schulleitern und Polizei

"Viel schlimmer als in den Schulen ist der Konsum bei arbeitslosen Jugendlichen: Die kiffen sich den Frust weg."

Dr. Dieter Geyer, Suchtexperte an der Fachklinik Bad Fredeburg

Über Schulsozialarbeiter: "Hier hakt es an allen Ecken und Enden. Wie soll man nah an die Schüler herankommen, wenn man für mehrere Hundert  zuständig ist?“

Luca Samlidis (17), Schüler

"Eltern müssen ihre Kinder zu selbstbewussten Menschen erziehen, die Nein sagen können."

Dr. Dieter Geyer, Suchtexperte an der Fachklinik Bad Fredeburg

"Jugendliche aus gebrochenen Familienverhältnissen sind viel stärker gefährdet als andere."

Dr. Dieter Geyer, Suchtexperte an der Fachklinik Bad Fredeburg

"Es ist kein Geheimnis, dass Bahnhöfe beliebte Drogenumschlagplätze sind."

Luca Samlidis (17), Schüler

„Es fehlt an Aufklärung. In Prophylaxe-Seminaren erfährt man mehr über die Gefahren von LSD und Kokain. Dabei ist Cannabis von der Zahl der Konsumenten her das größte Problem.“

Luca Samlidis (17), Schüler

"Ich bin mir sicher, dass es auch bei uns [...] Schüler mit einer gewissen Drogenerfahrung gibt."

Heinz-Jürgen Plugge, Schulleiter des Gymnasiums der Benediktiner, Meschede

"Schüler und Eltern können darauf vertrauen, dass die Schule ein geschützter Ort ist und bleibt."

Heinz-Jürgen Plugge, Schulleiter des Gymnasiums der Benediktiner, Meschede

"Schülern, die beim Konsum oder bei der Weitergabe von Drogen erwischt werden, drohen ernsthafte Konsequenzen."

Heinz-Jürgen Plugge, Schulleiter des Gymnasiums der Benediktiner, Meschede

"Einige kommen mit Drogen irgendwann, meist im privaten Umfeld, in Kontakt."

Mario Schmidt-Wrobel, Schulleiterin der Sekundarschule Attendorn

"An der Schulhofgrenze endet unser Einfluss."

Heinz-Jürgen Plugge, Schulleiter des Gymnasiums der Benediktiner, Meschede

"Gedealt wird nicht auf dem Schulhof."

Ralf Lehmann, Rauschgift-Sachbearbeiter bei der Polizei Hagen

"Wenn Cannabis legalisiert werden sollte, würde das gesellschaftliche Problem ja nicht verschwinden."

Heiko Lichtenstein, Leiter des Hagener Jugendkommissariats

Die Jugendlichen werden "selten von den eigenen Eltern gemeldet. Das ist meist der letzte Ausweg."

Ralf Lehmann, Rauschgift-Sachbearbeiter bei der Polizei Hagen

"Es wird oft in Kombination konsumiert. Exctasy zum Aufputschen und Cannabis zum Runterkommen."

Heiko Lichtenstein, Leiter des Hagener Jugendkommissariats

"Cannabis ist populär, weil es relativ günstig zu haben ist."

Luca Samlidis (17), Schüler

"Die meisten argumentieren damit, dass der Konsum doch legal sei. Tatsache ist, dass der Besitz strafbar ist. Wer den Joint gebaut hat, macht sich strafbar – wer ihn in der Hand hält, ebenfalls."

Ralf Lehmann, Rauschgift-Sachbearbeiter bei der Polizei Hagen

"Die Jugendlichen werden schnell ausbildungsunfähig, schaffen die Schule und die Lehre nicht mehr."

Dr. Dieter Geyer, Suchtexperte an der Fachklinik Bad Fredeburg

Zur gestiegenen Konzentration von Cannabis-Produkten: "Cannabis ist heute keine weiche Droge mehr."

Dr. Dieter Geyer, Suchtexperte an der Fachklinik Bad Fredeburg

"Ein Drogenpolizist, der nur einmal  an die Schule kommt, macht Schüler eher neugierig."

Dr. Dieter Geyer, Suchtexperte an der Fachklinik Bad Fredeburg

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Da sind zum dritten „breite Kreise in der Politik, die die Freigabe von Cannabis propagieren“, kritisiert Geyer. Wer dies wolle, müsse aber auch den Jugendschutz verbessern: Der Verkauf von Cannabis an Jugendliche dürfe frühestens ab 21 Jahren erlaubt werden. Da aber der Jugendschutz bereits beim Verkauf und Ausschank von Alkohol oft nicht beachtet werde, glaubt der Experte nicht daran, dass er beim Cannabis-Konsum eingehalten werde.

Wie wirksam ist Prävention?

Meist ist Prävention eher gut gemeint, sagt Dieter Geyer. „Die Effekte solcher Maßnahmen sind wissenschaftlich schwierig nachzuweisen“, fügt er hinzu. Wichtig sei, das Image der Drogen zu ändern: Wer sie nehme, dürfe nicht als cool gelten, sondern als Loser. Schulen müssten das Thema früh in einen komplexen Unterricht einbauen. „Der Drogenpolizist aber, der nur einmal an die Schule kommt, macht die Jugendlichen eher neugierig“, so Dieter Geyer. Eindrucksvoller sei es schon, „jemanden in die Klasse einzuladen, der schildern kann, wie er an den Drogen gescheitert ist – und wie er das im Rückblick sieht“.

Was können Eltern tun?

Sie müssen selbst verantwortungsbewusst mit Drogen, also Alkohol und Zigaretten, umgehen, so Dieter Geyer. Selbst zu rauchen und zu viel trinken, aber den Kindern Drogen zu verbieten – das hält der Experte für nicht Erfolg versprechend. „Vor allem aber müssen Eltern ihre Kinder zu selbstbewussten Menschen erziehen, die Nein sagen können.“