München/ Meschede. Terror, Amok, Sex-Übergriffe – kann der Mensch sich an dauerhafte Bedrohungen gewöhnen? Darüber und über das Attentat in München sprachen wir mit der Münchener Psychotherapeutin Aleksandra Cichecka.

  • Sechs Wochen sind seit dem Amoklauf in München vergangen. Manche Verletzungen blieben.
  • Die Münchener Psychotherapeutin Aleksandra Cichecka (32) erklärt, wie Menschen das Attentat verarbeiten
  • „Kein Mensch gewöhnt sich an Todesangst.“

. Am Freitag des Amoklaufs war Aleksandra Cichecka (32) nicht in München. Sie kam erst am Sonntag nach Hause. Die Stadt war verändert. Wenige Menschen auf den Straßen, viele Polizisten, Sperren. Die Praxis der psychologischen Psychotherapeutin liegt einen Kilometer Luftlinie entfernt vom Einkaufszentrum, in dem Ende Juli neun Menschen starben und viele verletzt wurden. Sechs Wochen sind vergangen. Manche Verletzungen sind geblieben. In Cicheckas Praxis kommen Menschen, die das Attentat erlebten. Als Anwohner, Kunde oder Angestellte im Olympia-Einkaufszentrum (OEZ). Ein Gespräch über Ängste und unsere robuste Seele.

Wie verarbeiten Menschen so ein Erlebnis?

Aleksandra Cichecka: Es ist normal, dass man nach so einem Ereignis unter Schock steht, Alpträume und Angst hat. So reagiert unser Körper, um uns zu schützen. Unsere Seele ist sehr robust, sie kann von allein heilen wie eine Schnittwunde. Ob man es schafft oder eine pathologische Entwicklung nimmt, darauf haben wir leider kaum Einfluss. Ein Beleg dafür ist eine bekannte Studie nach dem Holocaust. Ein Drittel der Überlebenden bildeten Traumastörungen aus. Nur ein Drittel, trotz des Schreckens. Allerdings gibt es schützende Faktoren, wie eine gute soziale Integration, Vertrauenspersonen, die sich auf die Entwicklung einer Störung positiv auswirken können.

Wann brauchen wir professionelle Hilfe?

Wenn der Schock nach drei, vier Tagen nicht abklingt, sondern weitere Symptome hinzu kommen. Wenn man sich zum Beispiel weiter vom sozialen Leben zurückzieht, eine Amnesie für das Ereignis entwickelt, Situationen oder Plätze meidet, die dem Ereignis ähneln, eine depressive Verstimmung und emotionale Stumpfheit verspürt, sollte man sich Hilfe holen.

Wie entstehen diese Ängste?

Wir sprechen bei solchen Attentaten von einem „belastenden Ereignis mit außergewöhnlichen Bedrohung, die nahezu bei jedem Menschen eine tiefe Verzweiflung auslösen würden“. Die Menschen dachten, dass sie sterben könnten. Die Verkäuferin im dritten Stock des OEZs ebenso wie Kunden in den Geschäften, die die Schüsse hörten. Sie müssen den Täter nicht einmal gesehen haben. Ihnen wurde das Gefühl der Sicherheit genommen, daraus können Ängste entstehen. Deshalb meiden sie vielleicht erst das OEZ, dann alle Einkaufszentren, die U-Bahn und schließlich alle Orte, wo sich Menschen aufhalten. Sie fühlen sich in ihrem Kern bedroht. Daraus kann sich eine Posttraumatische Belastungsstörung oder andere psychische Erkrankungen wie Depressionen entwickeln.

Wird die Posttraumatische Belastungsstörung nicht eher mit Soldaten in Verbindung gebracht?

Es kommt häufiger vor, als Sie denken. Der Auslöser kann auch eine Vergewaltigung sein, körperliche Misshandlungen oder sexueller Missbrauch in der Kindheit. Und gerade das letztere kommt bei fünf Prozent aller Menschen vor. Die meisten Täter stammen aus der Familie, deshalb wird über das Thema nicht gesprochen und es kommt selten zur Anzeige. Die meisten Betroffenen versuchen zunächst, mit eigenen Strategien den Alltag zu bewältigen, und suchen erst in einem späteren Lebensabschnitt einen Therapeuten auf. Deshalb kommen psychische Erkrankungen als Folge eines Missbrauchs in unserer Gesellschaft häufig vor. Amokläufe wie in München und sexuelle Übergriffe wie in Köln sind Ausnahmen, sexueller Missbrauch ist Alltag. Darüber wird nur nicht so intensiv gesprochen.

Wie therapieren Sie Menschen, die Traumatisches erlebt haben?

Wir sprechen darüber, nähern uns dem Ereignis auf kognitiver Ebene. Dann arbeiten wir an den Emotionen. Der Patient wird das Geschehene erneut durchleben, wir brauchen ein hohes Angstlevel, damit wir dieses dann abbauen können. Ansonsten bleibt das Erlebte für immer schlimm und verursacht Symptome. Das ist ein schmerzhafter Prozess. Stellen Sie sich vor, Sie müssten eine Vergewaltigung erneut erleben. Eine Erinnerung, die vielleicht jahrzehntelang verdrängt wurde. Ziel ist es, dass der Patient für sich erkennt: Das war ein singuläres Ereignis – und es auch so ins Gedächtnis integriert. Damit er das fundamentale Vertrauen in die Menschen wieder erlangt.

Terror, Amokläufe, sexuelle Übergriffe – kann der Mensch sich an dauerhafte Bedrohung gewöhnen?

Nein, wir können uns an den Anblick von Waffen und Polizei auf den Straßen gewöhnen. Aber nicht an Todesangst. Das ist dem Menschen inne. Es wird nie passieren, dass man gleichgültig an einem Menschen vorbeigeht, der gerade erschossen wurde.