Witten/Herdecke. Nur 4000 Anträge bislang: Die neue Pflegezeit mit zinsfreiem Darlehen wird kaum angenommen. Jetzt soll ein Beirat Ideen entwickeln.
- Neue Pflegezeit wird kaum angenommen: nur 4000 Anträge
- Beirat soll Ideen entwickeln
- Wittener Pflegewissenschaftlerin an der Spitze
Niemand will ins Pflegeheim. Es ist der größte Wunsch älterer Menschen, die nicht mehr allein zurechtkommen, zu Hause zu bleiben. Dann kümmern sich meist Angehörige. Und um diese will sich das Bundesfamilienministerium mehr kümmern. Dabei lässt es sich jetzt von einem unabhängigen Beirat für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf beraten. Dessen Vorsitzende ist die Pflegewissenschaftlerin Prof. Christel Bienstein von der Universität Witten/Herdecke.
1,7 Millionen Fälle
1,7 Millionen pflegebedürftige Menschen werden in Deutschland von ihren Familien versorgt. Das sind vor allem Frauen. Töchter, Schwiegertöchter, Ehefrauen. Oft fühlen sie sich überfordert. Insbesondere wenn sie berufstätig sind. Zu ihrer Unterstützung war das seit Januar gültige Familienpflegezeitgesetz gedacht. Es gibt pflegenden Angehörigen die Möglichkeit, ihre Arbeitszeit für zwei Jahre auf bis zu 15 Wochenstunden zu reduzieren. Zum Ausgleich für das wegfallende Gehalt können sie ein zinsloses Darlehen in Anspruch nehmen.
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Eine schöne Idee. Doch sie scheint nicht recht zu funktionieren. „Bislang sind erst 4000 Anträge eingegangen“, erklärt Bienstein. Der Beirat soll nun herausfinden, woran das liegt und Vorschläge entwickeln, wie das Gesetz mehr Wirkung entfalten kann. „Wir wollen zunächst Daten erheben über die Bedürfnisse der Angehörigen, über eventuelle Schwierigkeiten in den Unternehmen, Umfragen und Statistiken sowie internationale Studien auswerten, bevor wir im April wieder zusammenkommen“, sagt die Pflegewissenschaftlerin. Aber es gibt natürlich schon begründete Vermutungen: „Auch ohne Zinsen müssen die Familien sich verschulden. Und davor haben offenbar viele Angst.“
Christel Bienstein könnte sich stattdessen ein Modell nach dem Vorbild der Elternzeit vorstellen, bei der für 14 Monate ein Elterngeld gezahlt wird. Das würde teuer und sicherlich beim Bundesfinanzminister wenig Begeisterung auslösen, insbesondere dann, wenn die Zahl der Inanspruchnahmen steigt. Und das wäre wahrscheinlich, denn die Zahl der Pflegebedürftigen steigt stetig. „Das Problem wird nicht kleiner“, formuliert Bienstein. „Und den Notstand haben wir jetzt schon.“ Das zeige sich beispielsweise daran, dass Familien Absagen von Pflegediensten bekommen, die keine weiteren Patienten mehr annehmen können, weil sie kein qualifiziertes Personal finden.
Stationäre Kurzzeitpflege hilft
Die 63-jährige Professorin, die auch Präsidentin des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe ist, lobt die große Bereitschaft der Deutschen, Angehörige zu Hause zu pflegen: „Die ist größer als in vielen anderen Ländern.“ Aber speziell bei Menschen, die ihre Wünsche nicht mehr äußern können, mit denen keine Gespräche mehr möglich seien, könne die Aufgabe sehr belastend sein.
Deshalb sei es hilfreich, wenn pflegende Angehörige manchmal eine stationäre Kurzzeitpflege nutzen könnten, um selbst einmal durchzuatmen. Dafür fehle im ländlichen Raum bisweilen noch das Verständnis, da heiße es, die Schwiegermutter werde abgeschoben.
Tut die Politik genug zur Verbesserung der Lage? „Das Gesetz ist ein Schritt in die richtige Richtung. Es werden deutliche Akzente gesetzt. Die Frage ist, ob die ausreichen.“ Und was müsste sofort passieren? „Wir haben nicht genügend Transparenz in der Beratung. Viele Angehörige wissen nicht, wo sie nach Unterstützung suchen können. Das müssten wir deutlicher kommunizieren, am besten mit einer bundesweiten Telefonnummer, von der aus ortsnah weitergeleitet wird. Und die Berater müssten ins Haus kommen, denn viele pflegende Angehörige können oft nicht weg.“
Wie viel Informationsbedarf besteht, kann die Uni vor Ort studieren: „Wir haben eine Beratungsstelle für unsere Mitarbeiter eingerichtet, und die hat gut zu tun“, sagt Bienstein.