Essen. Für Vinyl-Fans ist die Erde eine (schwarze) Scheibe. Schallplatten sind trotz Spotify gefragt. Viele Musikfreunde entdecken den alten Sound neu.

Schallplattenbörse. Was ich erwartet hatte: Ein paar nerdige Jeanstypen mit Motörhead-T-Shirts, die sich über ausgeleierte Umzugskisten voller verstaubter Schallplatten beugen und dabei, zwischen zwei Zügen an der selbst gedrehten Zigarette, mit glänzenden Augen von ihren neuesten Errungenschaften auf dem LP-Gebrauchtmarkt erzählen, die sie stolz auch mal mitgebracht haben. Vinyl – das letzte Rückzugsgebiet der überzeugten Digital-Verweigerer und Früher-war-alles-Besser-Jünger. Nun ja, man pflegt halt so seine Vorurteile.

Die Realität: Sonntagmorgens im Messezentrum Dortmund. Eine Schallplattenbörse, wie es sie an Wochenenden in vielen Städten der Republik gibt. In zwei großen Sälen reiht sich ein Verkaufsstand an den nächsten. Darauf: Langspielplatten, auch Singles, ab und zu, auf dem Katzentisch, ein Stapel CDs. In den schmalen Gängen dazwischen drängen sich hunderte Vinyl-Fans, stöbern in den sorgfältig sortierten Kisten, plaudern mit dem Verkäufer, fragen nach seltenen Stücken oder Sonderpressungen, schimpfen auf die Preise oder rümpfen die Nase über die Ramsch-LPs, die es für 2 Euro das Stück am Grabbeltisch gibt. „Flohmarktware“, sagt einer abfällig im Vorbeigehen.

„Man wird nicht reich, aber es lohnt sich“

Auf Schallplattenbörsen treffen sich die Vinyl-Fans.
Auf Schallplattenbörsen treffen sich die Vinyl-Fans. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Aber immerhin: „Best of Shirley Bassey“ oder Drafi Deutschers „Diesmal für immer“ gibt es schon für 2 Euro, ebenso Andy Kim’s „Greatest Hits“. Wer sich dagegen die Single „Dann macht es Bumm“ von Gerd Müller – Ex-Bomber-der-Nation und Gelegenheitssänger – in den heimischen Plattenschrank stellen möchte, muss schon 35 Euro auf den Tisch legen. Nebenan erspäht eine junge Frau Vivaldis Vier Jahreszeiten mit Trevor Pinnock am Dirigentenpult für 8 Euro. „Alter!“, staunt sie, „8 Euro sind dafür nix.“

Schallplatten, das wird dem unbedarften Besucher solch einer Börse schnell klar, mögen zwar ein Nischenprodukt sein – aber so klein kann die Nische nicht sein, wenn sich Dutzende Händler selbst aus Osnabrück oder Koblenz oder Aachen mit ihren vollgepackten Kombis ins Ruhrgebiet auf den Weg machen. „Ich komme hier fast immer auf meinen Schnitt“, sagt Jörg, ein bärtiger Mittvierziger, der in der Nähe der belgischen Grenze seinen Plattenladen betreibt. Der Kollege am Stand nebenan nickt zustimmend: „Man wird nicht reich, aber es lohnt sich.“

Schallplatten-Trend: Totgesagte leben länger

Eines der berühmtesten LP-Cover überhaupt: Abbey Road von den Beatles.
Eines der berühmtesten LP-Cover überhaupt: Abbey Road von den Beatles. © picture alliance / ZUMAPRESS.com | La Nacion

Vinyl, nach Einführung der CD in den 80er-Jahren totgesagt und seit dem Siegeszug der Streamingdienste scheinbar endgültig zum Aussterben verdammt, lebt. Der Bundesverband Musikindustrie (BVMI) verkündete schon vor gut zwei Jahren das „Comeback der Schallplatte“ und diagnostiziert: „Während Streaming das modernste, flexibelste und am meisten genutzte Format ist, erfüllt die Schallplatte in einer zunehmend digitalisierten Welt ein vorhandenes Bedürfnis nach haptischem Erleben, das für eine zusätzliche Form der Künstlernähe, für Authentizität, einen besonderen Musikgenuss und einen individuellen Lebensstil steht.“

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Das Reinigen der Platte vor dem Abspielen, das Auflegen der schwarz glänzenden Scheibe auf den Plattenteller, das kaum hörbare Knacken, wenn der Tonabnehmerarm aufsetzt – für so manchen passionierten Musikliebhaber bedeutet das eine Zeremonie mit fast religiösem Charakter. Was ist dagegen schon das Einlegen einer seelenlos-silbernen Scheibe ins High-Tech-CD-Fach?

Die Zahlen geben dem Befund des BVMI recht. 2022 wurden demnach in Deutschland rund 4,3 Millionen LPs verkauft. Das entspricht einem Absatzanteil von 17 Prozent innerhalb des Segments physische Tonträger, zu dem auch CDs, MCs sowie DVDs und Blu-ray-Discs mit Musikinhalten gehören – das ist aber natürlich Lichtjahre entfernt von den Milliardenumsätze der Streamingdienste wie Spotify oder Amazon Music. Dass sich das Geschäft mit dem vermeintlich antiquierten Vinyl gleichwohl lohnt, beweist der Trend, dass immer mehr Künstler ihre Neuerscheinungen nicht nur über Streaming und als CD anbieten, sondern – oft in Kleinauflagen – auch wieder als Schallplatte.

Stones und Beatles mit neuen Schallplatten

Superstars wie Beyoncé befeuern den Schallplatten-Retrotrend.
Superstars wie Beyoncé befeuern den Schallplatten-Retrotrend. © Sony Music | Sony Music

Die Branche, so scheint es, hat den Vinyl-Fan als lohnenden Kunden wiederentdeckt. Viele Stars wie Beyoncé, Taylor Swift oder Judas Priest bringen ihre neue Alben auch auf Vinyl auf den Markt. Auch „Hackney Diamonds“, das jüngst, umjubelte Werk der unverwüstlichen Rolling Stones, ist mit 33 Umdrehungen zu haben. Der Preis für das Vinyl liegt oft bei etwa dem doppelten dessen, was für die CD aufgerufen wird.

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Zusätzlich befeuert wird der Markt durch neue Veröffentlichungen bekannter LPs aus alten Zeiten. Ein Beispiel aus den letzten Monaten: die beiden legendären Doppel-LPs der Beatles, das Rote und das Blaue Album. Ursprünglich 1973 veröffentlicht, enthält die klanglich aufpolierte Neuauflage von Ende 2023 insgesamt 21 zusätzliche Songs. Einer davon die ist das auch als Single veröffentlichte Stück „Now and Then“, das mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz produziert wurde. Besonders preiswert ist der rot-blaue Nostalgie-Trip allerdings nicht. Pro Album werden für den Beatles-Fan mehr als 70 Euro fällig. Trotzdem schafften es beide Alben sofort in die Top Ten der amerikanischen „Billboard“-Charts.

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Zurück zur Schallplattenbörse, wo es meist weniger um auf edel getrimmte Neupressungen geht als vielmehr um alte Vinyl-Schätzchen. Peter, 52 Jahre alt und überzeugter „Vinylist“, wie er selbst sagt, unterteilt die Besucher auf den Börsen im Wesentlichen in drei Gruppen: „Das sind die Nostalgiker, für die früher immer alles besser war. Dann gibt es die Sammler, denen es mindestens so sehr ums Haben wie ums Hören geht.“ Und die dritte Gruppe? „Das sind vor allem Männer zwischen 50 und 60, die die Platten aus den 70er- und 80er-Jahren suchen und sich damit wohl in ihre Jugendzeit zurück beamen wollen“, meint Peter. Und wozu zählt er sich selbst? Peter grinst. „Vermutlich ein bisschen von allem.“

„Streaming ist doch viel bequemer“

Schallplattenbörsen, so hat man als Besucher den Eindruck, sind Männersache. Ähnlich wie auf Briefmarkentauschtagen oder Fotobörsen sind Frauen jedenfalls bei der Dortmunder Börse klar in der Minderheit. Silke und Lene, beide um die 20, sind zum ersten Mal dabei. Sie erzählen, dass sie für einen Freund, der Vinyl-Fan ist, ein Geburtstagsgeschenk suchen. Eine genaue Vorstellung haben sie nicht: „Am besten irgendwas Poppiges, vielleicht ein Sampler. Aber hier ist die Auswahl ja so riesig, da weiß man gar nicht, was man nehmen soll.“

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Die beiden jungen Frauen selbst, so erzählen sie, hätten mit Langschallplatten nichts am Hut: „Streaming ist doch viel bequemer. Außerdem würden der Plattenspieler und die Platten selbst viel zu viel Platz wegnehmen in der Wohnung.“

Eingefleischte Vinyl-Fans sehen das ganz anders. Um das zu erleben, muss man sich nur mal in den einschlägigen Gruppen bei Facebook umtun, wo sich Zehntausende Platten-Liebhaber eifrig austauschen. Die Fotos der ausladenden Stereo-Anlagen und Wände füllenden Plattensammlungen, die dort gepostet werden, zeigen eindrucksvoll, welchen Stellenwert das Vinyl in so manchem Sammler-Haushalt einnimmt: ganze Regale bis unter die Decke voller Schallplatten, Fans berichten stolz von mehreren tausend Scheiben in ihrem Besitz. Einer gesteht ein: „Die ganzen Platten, die sich inzwischen bei mir angesammelt haben, werd ich nie im Leben hören können.“

Dies ist ein Artikel aus der Digitalen Sonntagszeitung. Die Digitale Sonntagszeitung ist für alle Zeitungsabonnenten kostenfrei. Hier können Sie sich freischalten lassen. Sie sind noch kein Abonnent? Hier geht es zu unseren Angeboten.