Essen. Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel sieht den sozialen Frieden in Gefahr und warnt vor Spaltung: „In der deutschen Gesellschaft brodelt es“.
In ganz Deutschland wollen Bauern gegen Kürzungspläne der Bundesregierung demonstrieren. Auch im Ruhrgebiet haben Landwirte für den kommenden Montag Protestaktionen angekündigt. Zum Eklat kam es, als am Donnerstag etwa 100 Demonstranten Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) an der Nordsee aggressiv am Verlassen seiner Fähre gehindert haben. Woher kommt diese Wut auf die Politik? Das fragte Christopher Onkelbach den renommierten Politikwissenschaftler Prof. Wolfgang Merkel vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).
Erleben wir mit Blick auf die Protestaktionen der Bauern eine Verrohung der politischen Sitten und der Protestkultur?
Wolfgang Merkel: Von Verrohung würde ich nicht sprechen. Gute Demokratien müssen solche Streiks und Proteste aushalten. Bei Bauern und Lkw-Fahrern erleben wir natürlich eine andere Protestkultur als beim Ärzteverband Marburger Bund. In Frankreich gehören Straßenblockaden zum traditionellen Protestinstrumentarium von Landwirten und Fernfahrern. Aber in der deutschen Gesellschaft brodelt es. Die Bürger sehen die Regierung in der Pflicht zu liefern und glauben zugleich, dass sie es nicht schafft, die Probleme zu lösen.
Ist angesichts der Proteste einzelner Interessengruppen der soziale Zusammenhalt gefährdet?
Unsere Gesellschaft ist schon ein Stück weit gespalten und polarisiert. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern für fast alle liberalen Demokratien. Die Politik muss das ernst nehmen. Wir erleben, dass Interessengruppen wie Bauern, Lokführer oder Spediteure, die einen relativ kleinen Bevölkerungskreis repräsentieren, große Aufmerksamkeit erlangen können. Jede Gruppe verfolgt ihre eigenen Interessen. Dies überträgt sich auf die ganze Gesellschaft, erodiert den Gemeinsinn und verstärkt die Kluft.
Sehen wir derzeit eine neue Qualität von Wutbürgertum?
Das haben wir bereits 2016 in der Flüchtlingsfrage, bei den Pegida-Demonstrationen und auch bei den Corona-Protesten gesehen. Das setzt sich jetzt fort. Die Gruppierungen haben gelernt, dass diese Protestformen große Aufmerksamkeit erzeugen und sie die Politik unter Druck setzen können. Wenn aber die Wut über die Politik immer wieder entfacht werden kann, erzeugt dies auf Dauer einen Vertrauensverlust gegenüber den Institutionen der Demokratie wie Parlament, Regierung und Gerichte. Das ist gefährlicher als die Wut auf einzelne Politiker oder Politikerinnen. Dann erodieren die Grundfesten der Demokratie.
Nutzen auch AfD und andere rechtsextreme Gruppierungen die aktuellen Proteste für ihre Ziele?
Ja, auf jeden Fall. Das ist die charakteristische Form ihres politischen Auftretens. Sie greifen Protest und Unmut in der Bevölkerung auf und verschärfen die Konflikte, um die etablierten Parteien herauszufordern. Aber es geht der AfD dabei nicht um die Sache, sondern sie versuchen, die Systemfrage zu stellen. Das kann 2024 zu einer problematischen Verschärfung der Konflikte führen, weil sie protestbereite Wähler in den ostdeutschen Ländern vor den anstehenden Landtagswahlen mobilisiert.
Woher kommt diese offenbar leicht entzündliche Wut auf die Politik?
Wir leben in einer deutlich stärker gespalteten Gesellschaft als noch vor zehn oder zwanzig Jahren. Dafür gibt es drei Gründe. Erstes die Ansammlung von Mega-Krisen wie Klima, Migration, Pandemie und die Ungleichheit von Lebenschancen, die nicht schnell oder schmerzfrei zu lösen sind. Zweitens sind viele Menschen ungeduldig geworden und mit den Entscheidungen der Regierung unzufrieden. Und drittens fühlen sich offensichtlich viele Bürgerinnen und Bürger nicht mehr hinreichend repräsentiert. Anders lassen sich die Wahlerfolge der AfD kaum erklären. Aus der Unzufriedenheit entsteht ein sich selbst verstärkender Prozess, in dessen Verlauf offenbar viele Menschen denken, jegliche zivilisierte Kommunikation über Bord werfen und Politiker anpöbeln zu können. Die AfD und die Diskursformen der sozialen Medien wirken dabei als Brandbeschleuniger.
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Jüngst erschien von Wolfgang Merkel zum Thema das Buch: „Im Zwielicht. Zerbrechlichkeit und Resilienz der Demokratie im 21. Jahrhundert“.