Essen. Experte warnt vor den Folgen eisiger Temperaturen ab nächster Woche: Die Hochwassergefahr ist noch nicht gebannt. Halten die Deiche in NRW?
Für große Teile Nordrhein-Westfalens sagen die Meteorologen weitere Niederschläge und steigende Pegelstände voraus. Bereits jetzt sind viele Deiche durchweicht und unter Druck. Sogar neu errichtete Deiche an der Lippe mussten bereits mit Sandsäcken und Steinen beschwert und verstärkt werden. Der für kommende Woche angekündigte Frost kann die Lage in den Hochwassergebieten weiter verschärfen, warnt Prof. André Niemann, Direktor am Institut für Wasserbau und Wasserwirtschaft der Uni Duisburg-Essen.
Erleben wir in NRW derzeit ein ungewöhnliches Hochwasser?
André Niemann: Eher nicht. Es ist ein Naturereignis, das es immer wieder gegeben hat, auch mit diesen Niederschlagsmengen und Pegelständen. In Niedersachsen sehen wir eine ganz andere Lage als hier. Dort gibt es viele lehmhaltige Böden, die das Wasser irgendwann nicht mehr aufnehmen können, zudem entsprechen dort besonders viele Deichbauten nicht mehr dem aktuellen Stand der Technik.
Wo ist die Gefahr in NRW besonders groß?
Die großen Flussdeiche, etwa am Rhein sind sicher. Riskanter ist die Lage an kleineren Gewässern, etwa im Münsterland oder Ostwestfalen. Hier können Deiche komplett durchfeuchten, der Boden beginnt regelrecht zu wackeln und zu rutschen. Dann kann ein Erdkörper irgendwann brechen, das hält dann niemand mehr auf.
Sind die Deiche zu alt?
Ein moderner Deich kann nicht vollständig durchfeuchten. Das andrückende Wasser durchströmt kontrolliert den Erdkörper. Man weiß, wo es eintritt und wo es abfließt. Aber viele Deiche, die in den 1960er-Jahren gebaut wurden, haben diese Vorrichtungen nicht. Daher werden nicht überall die aktuellen Deichschutzstandards eingehalten. Aber das weiß man schon lange, schon vor 15 Jahren haben wir über nötige Sanierungsmaßnahmen diskutiert, doch die Frage war dann immer: Wer soll das bezahlen, wer soll das umsetzen und wann sollen wir das machen?
Wie ist die Situation in NRW?
NRW ist durchaus besser aufgestellt als andere Bundesländer. Die großen Wasserverbände wie Emschergenossenschaft, Lippeverband, Ruhrverband oder Wasserverband Eifel-Rur kennen den Zustand der Deiche sehr genau, überwachen die Anlagen und wissen, was bei Hochwasser getan werden muss. Aber das gilt nicht überall in NRW.
In der kommenden Woche ist Frost angekündigt. Entspannt das die Lage?
Nein, im Gegenteil, das kann zu einer zusätzlichen Gefahr werden. In der nächsten Woche soll es Nachtfrost geben. Wenn es dann tagsüber auf den gefrorenen Boden regnet, werden sich die Pegel nochmals erhöhen, denn dann versickert das Wasser nicht, sondern fließt ab wie auf einem Parkplatz. Für die Deiche selbst kann Frost entlastend wirken. Aber ich sage: Es ist noch nicht vorbei.
Warum mussten jetzt sogar neue Deiche verstärkt werden?
Die genauen Gründe dafür sind noch nicht bekannt. Aber ein Deich ist ein komplexes und großes Bauwerk, da kann man nicht jeden Meter gleich stabil bauen. Das ist keine Mauer, sondern er besteht aus Erde und Boden. Das Material verhält sich nicht immer vorhersehbar und unterliegt auch Einflüssen. Denken Sie an Bäume und Wurzeln, eigentlich wollen wir sie nicht im Deich. Im Fall des Ruhrdeichs in Oberhausen ist offenbar die Drainage, also der Abfluss des Wassers, nicht richtig gewährleistet, dadurch wurde der Erdkörper durchfeuchtet.
Wie marode sind die Deiche in NRW?
Grundsätzlich sind unsere Deiche sicher. Aber Hochwasserschutz ist eine Daueraufgabe. An den Flüssen in NRW gibt es Deiche in einer Gesamtlänge von 530 Kilometern, seit 2014 gibt es ein Sanierungsprogramm mit 47 Vorhaben. Davon sind bisher aber nur sechs umgesetzt. Das dauert alles viel zu lange. Von der Planung bis zur Umsetzung eines Deichbauwerks vergehen in der Regel sieben bis zehn Jahre. Ich wünsche mir, dass wir auch bei der Infrastruktur endlich vor den Ball kommen.
Warum geht es so langsam voran?
Wir haben in NRW ein strukturelles Defizit, was die Politik endlich angehen muss. Der Schutz ist dort schlechter, wo nicht die großen Wasserverbände, sondern Kommunen und Bezirksregierungen zuständig sind. Sie sind oft personell und finanziell überfordert. Es fehlen Fachkräfte für die Planungs- und Genehmigungsverfahren sowie für den Bau der Anlagen. Hinzu kommt die leidige Hochwasser-Demenz.
Hochwasser-Demenz? Was meinen Sie damit?
In der letzten Zeit waren eher Dürre und Trockenheit das Thema. Wenn es längere Zeit kein Hochwasser gab, denkt niemand an Deichbauten und es wird schwerer, die nötigen Maßnahmen umzusetzen. Daher sollte man die Pläne in der Schublade haben und sie sofort umsetzen, wenn das Problem akut ist. Das sieht dann jeder ein.
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Was passiert, wenn ein Deich versagt?
Dann hält niemand mehr das Wasser auf, es steht oft kilometerweit in der Landschaft. Aber Städte, Behörden, Katastrophenschutz und Feuerwehren wissen genau, wohin das Wasser läuft und was dann zu tun ist. Menschen müssen evakuiert, kritische Infrastruktur, Stromverteiler und Krankenhäuser geschützt werden. Dafür gibt es Pläne.
Werden wir erleben, dass in NRW ein Deich bricht?
Das würde mich sehr überraschen. Bei diesen Pegelständen werden sie halten. Aber es ist nicht vorbei. Nach dem Hochwasser ist vor dem Hochwasser. Wer weiß, was in 14 Tagen ist.