Gelsenkirchen. Immer noch kämpft Gelsenkirchen mit den Folgen des schweren Unwetters. Wäre Schlimmeres zu verhindern gewesen? Das sagen Experten.

Ganze Straßenzüge sind bei dem Unwetter in Gelsenkirchen überschwemmt worden, die Schadensbeseitigung an Gebäuden und Wohnungseinrichtungen dürfte in die Millionen gehen. Die Emschergenossenschaft hatte sich darüber beklagt, dass sie erst kurz vor dem Unwetter eine Warnung erhalten habe. Doch hätte eine frühere Warnung am Ausmaß der Überflutungen in Gelsenkirchen (Schalker Meile, Bismarckstraße, Trinenkamp etc.) tatsächlich etwas geändert? Zu welchen Urteilen Feuerwehr und die Spezialisten vom Gelsenkirchener Institut für Unterirdische Infrastruktur (IKT) kommen.

Gelsenkirchener Feuerwehr-Chef: „Keine Chance, vorzeitig Schlimmeres zu verhindern“

Feuerwehr-Chef Michael Axinger ist seit 32 Jahren als Profi-Retter unterwegs. Überschwemmungen wie beispielsweise an der Schalke Meile, wo sich in der Unwetternacht unter der A 42-Unterführung ein riesiger See gebildet hat und die Einsatzkräfte Boote statt Straße nutzten, um Menschen zu Hilfe zu eilen, sind für ihn kein Novum. Dort befindet sich Gelsenkirchens tiefster Punkt.

Axinger erinnert sich: „Schon in den 90er Jahren musste die Feuerwehr bei einem Unwetter dorthin ausrücken, weil eine Straßenbahn in Regenfluten festsaß.“ Selbst für die mächtigen Drehleiter-Fahrzeuge der Feuerwehr gab es dort kein Durchkommen. Starke Zweifel hat Gelsenkirchens Leitender Branddirektor daran, ob die Fluten besser einzudämmen gewesen wären, wenn die Einsatzkräfte schon vorzeitig an bekannte neuralgische Stellen mit Pumpen ausgerückt wären. Und das aus vielerlei Gründen. Interessant dazu:Gelsenkirchen: Flutmüll türmt sich in den Straßen

Zum einen: Die Warnung per App kam spät, zudem sind bis heute keine punktgenauen Vorhersagen möglich, wo sich die Regenfluten genau ergießen – ganze Löschzüge ausschwärmen zu lassen, um sie später umzudirigieren, ist logistischer Wahnsinn. Und auch nicht zielführend, sondern brandgefährlich: Wenn Menschenleben in Gefahr sind, müssen die Retter innerhalb von acht Minuten am Unglücksort sein.

Zum anderen: „Selbst wenn wir beispielsweise an der Schalker Meile vorher in Stellung gehen, wohin sollen wir das sich stauende Wasser denn abpumpen“, fragt der Feuerwehr-Chef. Die Kanäle seien überfordert bei solchen Starkregenmengen, ein Abpumpen hätte nur dazu geführt, dass umliegende Häuser noch mehr betroffen worden wären als sie es ohnehin schon waren. Erst als ein Teil des Wassers abgeflossen war in der Unwetternacht, konnten Pumpen den Rest schneller erledigen als auf natürlichem Weg. Insofern sagt Michael Axinger: „Keine Chance, vorzeitig Schlimmeres zu verhindern.“

Land unter an der Schalke Meile am vergangenen Donnerstag (17. August): So wie hier sah es an vielen Stellen im Gelsenkirchener Stadtsüden aus.
Land unter an der Schalke Meile am vergangenen Donnerstag (17. August): So wie hier sah es an vielen Stellen im Gelsenkirchener Stadtsüden aus. © Feuerwehr Gelsenkirchen

Unwetter in Gelsenkirchen: Überflutungsschutz ist eine Lebensalteraufgabe

Für Roland Waniek verbietet sich ein genaues Urteil über Schalker Meile, Trinenkamp oder A 42-Unterführung Bismarckstraße in der Nähe des Zooms. „Dazu müsste man die Örtlichkeiten einer gutachterlichen Prüfung unterziehen, um sagen zu können, ob und wie Überschwemmungen zu vermeiden gewesen wären“, so der IKT-Geschäftsführer.

Trotzdem skizzierte Waniek generelle Probleme, die sich im Zusammenhang mit solchen Unwetterereignissen für eine Stadt wie Gelsenkirchen ergeben. „Meistens ist das Kanalsystem sehr alt, 50 Jahre und mehr sind eher die Regel als die Ausnahme“, so der IKT-Chef. Auch waren Starkregenereignisse damals seltener als heute. Entsprechend kleiner seien früher die Kanäle ausgelegt worden. Lesetipp:Starkregen wird es häufiger geben – auch in Gelsenkirchen

Und: Selbst wenn beispielsweise unter der Schalker Meile riesige Abwasserröhren installiert würden, so groß und so zahlreich könnten die Zuläufe, also Gullys, von ihrem Fassungsvermögen gar nicht sein, dass sie die Oberflächenströme sofort ableiteten. Man kann keine Schleusentore in die Straße einlassen, die ad hoc Tausende Liter Wasser in die Kanäle verschwinden lassen. Dort Häuser abzureißen, um breitere Überschwemmungszonen zu schaffen, ist auch nur auf dem Papier eine Alternative – dagegen steht das Eigentumsrecht. Und der Platz für Sammelbecken fehlt zudem wegen der dichten Bebauung rundherum.

Überschwemmungsschutz: Aufwendig und extrem teuer – ein Milliardenprojekt

Die Möglichkeiten, schnell etwas zu ändern, sind begrenzt, vielmehr ist es eine „echte Lebensalteraufgabe“ wegen des Umfangs und der immensen Kosten.

Und es kommt auf viele Beteiligte an, darunter, klar, die Stadt. Aber auch auf Maßnahmen zum Selbstschutz seitens der Eigentümer oder Vermieter kommt es an. „Die können an ihren Gebäuden Stauklappen einbauen, die das Eindringen von Wasser durch die Kanalisation und den Keller verhindern“, nennt Roland Waniek ein Beispiel. Allerdings nur, sofern die Klappen regelmäßig gewartet würden, ein Ast oder eine tote Ratte blockieren schnell den Schutz. Oder etwa abgedichtete Lichtschächte und Kellerfenster – in älteren Gebäuden sind oft noch luft- und wasserdurchlässige Gittereinsätze mit Glasfront zu finden – leichtes Spiel fürs Wasser.

Tipps zum Schutz:

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Die Stadt, in dem Fall Gelsenkanal, und die Emschergenossenschaft teilen sich die Zuständigkeit für hiesige Gewässer und Kanäle. Dass die Emscher und ihre Zuflüsse nicht über ihre Ufer treten, dafür sorgen unter anderem riesige Pumpwerke und üppig dimensionierte Stauraumkanäle mit gedrosseltem Abfluss, die entweder große Mengen Wasser abführen oder zwischenlagern können.

Das Netz aus Kanälen „ist 720 Kilometer lang“ erklärte Gelsenkanal-Betriebsleiter Ulrich Stachowiak bereits 2016. Kosten: zwischen 1000 und 2000 Euro pro laufendem Meter. Ein Milliardenobjekt also. Es ist stadtweit mit Rohren von bis zu 3,4 Metern Durchmesser so ausgelegt, dass seine Kapazitätsgrenze statistisch einmal in fünf bis zehn Jahren überschritten wird. Mehr, so der Experte, gehe nicht. Es wäre wirtschaftlich unverantwortbar, überall Rohre in Maximalgröße zu legen. Dafür fehlen schlichtweg das Geld und die Bereitschaft der Bevölkerung, wesentlich höhere Entwässerungskosten mitzutragen.

Endliche Kapazitäten bei Stauraumkanal, Rückhaltebecken und Co.

Dass aber auch solche Maßnahmen nur kleiner Teil einer deutlich komplexeren Lösung sein können, zeigt der Umstand, dass am gerade ökologisch aufgewerteten und zum Teil ausgeweiteten Sellmannsbach unweit des Trinenkamp sowohl das Gewässer selbst als auch Stauraumkanal und das nahe Rückhaltebecken bei gemessenen 75 Litern Regen pro Quadratmeter in der Unwetternacht klein beigeben mussten – und sich Wasser hektoliterweise in den Straßenzug ergoss.

Renaturierung von Sellmannsbach, Schwarzbach und Co., Dachbegrünung, Flächenentsiegelung, Speicherbecken unter Straßenbäumen (Baum-Rigolen), Sportplätze als Überflutungsflächen im Extremfall oder auch heimische Gärten als Sickerflächen – all das und noch mehr sind Puzzle-Teile auf dem Weg hin zur Schwammstadt Gelsenkirchen. Ziel: Bis 2040 sollen so 25 Prozent des Regenwassers von der Kanalisation abgekoppelt werden. Geschafft sind bislang 13 Prozent. Wie gesagt: Es ist eine Lebensalteraufgabe, den schneller voranschreitenden Klimawandel und die dadurch häufiger zu erwartenden Regenfluten noch gar nicht eingerechnet.