Die Zahlen schrecken auf. Die Wahrheit ist komplizierter und hat auch etwas mit einem veränderten Anzeigenverhalten zu tun

Als Landesinnenminister Herbert Reul in der vergangenen Woche die aktuelle Kriminalitätsstatistik vorstellt, sorgen die Zahlen einmal mehr für Schaudern. Mehr Gewalttaten, mehr jugendliche Tatverdächtige als im Jahr zuvor. Es scheint: Alles wird schlimmer, die Jugend ist krimineller denn je. Verstärkt wird dieser Eindruck durch furchtbare Verbrechen. Im Februarsterben in Oberhausen zwei junge Ukrainer, getötet von einem jugendlichen Intensivtäter. Am Freitag wird in Dortmund ein Obdachloser erstochen. Der Täter ist mutmaßlich ein 13-Jähriger. Statistiken sind aber zunächst nackte Zahlenwerke. Wer auf Erklärungssuche geht, sieht, dass der erste Eindruck womöglich täuscht.

Im vergangenen Jahr wurden in Nordrhein-Westfalen etwa 48.000 Jugendliche und fast 22.500 strafunmündige Kinder als Tatverdächtige ermittelt. In beiden Fällen sind die Zahlen im Vergleich zum Vorjahr tatsächlich gestiegen. Auf lange Sicht relativiert sich dieser Anstieg aber zumindest im Bereich der Jugendkriminalität. Im Jahr 2011 beispielsweise führt die Kriminalitätsstatistik für NRW fast 54.000 jugendliche Tatverdächtige auf, im Jahr 2012 waren es etwa 49.000. Deutlich gestiegen ist im Vergleich zu diesen Jahren jedoch die Zahl der ermittelten tatverdächtigen Kinder.

Polizeigewerkschaft: Anzeigenverhalten hat sich verändert

In die Statistik fließt auch ein veränderter Umgang mit Auseinandersetzungen ein, erklärt Michael Mertens, der Landesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP). „Wenn Jugendliche sich prügeln, wird heute sehr schnell der Anwalt eingeschaltet.“ Seine Kollegen merken insbesondere an Schulen, „wie zügig Dinge zur Anzeige gebracht werden“.

Die Polizei muss diese Anzeigen aufnehmen. Dann tauchen sie in der Kriminalitätsstatistik auf. Ein verändertes Anzeigenverhalten kann die Zahlen steigen lassen. In der Kriminalitätsstatistik werden aber nur die Tatverdächtigen aufgeführt, nicht diejenigen, die tatsächlich wegen einer Straftat verurteilt werden.

Zahl der eingestellten Verfahren steigt

Ein Hinweis auf ein übersensibles Anzeigenverhalten, das die Kriminalitätsstatistik generell verfälscht, ist die Zahl der eingestellten Verfahren. Diese Zahl hat in den vergangenen Jahren „ganz erheblich zugenommen“, so Gerd Hamme, Geschäftsführer des Bundes der Richter und Staatsanwälte in NRW.

Fast jede dritte von der Polizei erfasste Straftat landet mittlerweile erst gar nicht vor Gericht, weil das Verfahren von der Staatsanwaltschaft wegen eines „fehlenden hinreichenden Tatverdachts“ eingestellt wird. Das ist einer der Gründe dafür, warum die Zahl der verurteilten jugendlichen Straftäter nach Angaben des Landesjustizministeriums seit 2008 kontinuierlich sinkt.

Jeder dritte Prozess ohne Urteil

Ein weiterer Grund für die sinkenden Verurteilungszahlen: Bei den Jugendgerichten, so Hamme, hätten „alternative Möglichkeiten zur Verfahrenserledigung“ eine größere Bedeutung erlangt, bei denen der erzieherische Gedanke im Vordergrund stehe; etwa, indem jugendliche Ersttäter sich intensiv mit dem begangenen Unrecht auseinandersetzten und aktiv Schadensgutmachung betrieben.

Fast jeder dritte vor einem Jugendgericht verhandelte Fall wird in NRW nach Angaben des Landesjustizministeriums mittlerweile durch solche alternativen Möglichkeiten beigelegt. Urteile hätten, so das Ministerium „regelmäßig keinen erzieherischen Mehrwert“, sondern würden die Gefahr einer frühzeitigen Stigmatisierung Jugendlicher als „Straftäter“ bergen.

Polizei wünscht sich härteren Umgang mit Intensivtätern

„Eine beachtliche Zahl dieser Ersttäter wird danach nicht mehr straffällig“, betont Hamme. Die sinkenden Verurteilungszahlen seien also „in keiner Weise ein Indiz dafür, dass die Strafjustiz nicht angemessen oder gar zu milde“ mit jugendlichen Straftätern umgehe.

Polizeigewerkschafter Mertens ist davon nicht ganz überzeugt. „Bei jugendlichen Intensivtätern ist bei Polizisten häufiger der Eindruck entstanden, dass ihnen stärker die Grenzen aufgezeigt werden müssten. Das sage ich mit großem Respekt für die Gewaltenteilung und die Arbeit der Gerichte.“

Die Interpretation der Kriminalitätsstatistik ist also gerade mit Bezug auf die Jugendkriminalität kompliziert und dient nicht für einfache Antworten. Die Psychologin Julia von Weiler weist im WDR jedoch angesichts der Gewalttaten von Oberhausen oder Dortmund darauf hin, dass zwar nicht die Zahl der Straftaten zugenommen habe, sich aber die Qualität mancher dieser Taten verändert habe. Sie seien häufig brutaler als vor zehn Jahren, würden gefilmt und in den sozialen Medien verbreitet. „Da sehen wir tatsächlich eine Veränderung im Täterverhalten.“