An Rhein und Ruhr. Martin Becker hat die Geschichte seiner untergegangenen Proletarier-Familie in einem großartigen Roman zusammengefasst: „Die Arbeiter“.

Es sind die sogenannten einfachen Verhältnisse, die Martin Becker in seinem Roman „Die Arbeiter“ beschreibt. Doch die Verhältnisse sind natürlich alles andere als einfach, wenn jeden Monat das Geld knapp ist, der Vater mürrisch, die Mutter zu dominierend und Schnaps und Zigaretten die Atmosphäre zumindest belasten.

Becker hat seine Familien- und Lebensgeschichte jetzt zu einem bemerkenswert souveränen Roman verdichtet, der nichts beschönigt, aber die rauhe Wirklichkeit seiner Kindheit und Jugend literarisch gekonnt gestaltet.

Gewiss, er ist kein Soziologe, wie der vielgerühmte Didier Eribon, der mit seinem Werk „Rückkehr nach Reims“ nach gelungenem sozialen Aufstieg beschreibt, wie sich die proletarische Wirklichkeit verändert hat. Aber auch Becker reflektiert und zeigt, was das heißt, dass die Lebenserwartung in unserem Land an den Bildungsgrad gekoppelt ist. Und wer von morgens bis abends mit dem Überleben befasst ist, hat keine Energie mehr.

Im Urlaub am Meer herrscht immer Ebbe

Für seine Eltern ist das Leben ein ständiger Kampf um ein Mindestmaß an Wohlstand, um das bisschen Urlaub irgendwo am Meer, natürlich maximal in einer verwohnten Ferienunterkunft ein paar hundert Meter weg vom Meer, das ohnehin wegen Ebbe nie da ist, wenn man es braucht.

Immerhin gelingt es dem Vater , der Familie ein kleines Reihenhaus zu errichten, mit Raten bis zum Dach und dem Wissen, dass am Ende doch immer die Bank gewinnt und er dafür lange Jahre schuften muss, um Pleuelstangen zu schaffen für Autos, die er sich nie wird leisten können..

Plettenberg, Gewerbegebiet Köbbinghauser Hammer: Hier müssen wir Martin Becker beziehungsweise sein literarisches Alter Ego verorten.
Plettenberg, Gewerbegebiet Köbbinghauser Hammer: Hier müssen wir Martin Becker beziehungsweise sein literarisches Alter Ego verorten. © www.blossey.eu / FUNKE Foto Services | Hans Blossey

Aber Becker, jüngstes der vier Kinder, hat den Aufstieg geschafft, am Literaturinstitut in Leipzig gelernt und lässt auch anklingen, wie fürchterlich fremd er sich dort unter Akademikerkindern gefühlt hat als Sohn eines Bergmanns und einer Näherin, erst aus Gladbeck, dann aus Plettenberg.

Drei ältere Geschwister hat er: Eine adoptierte, behinderte Schwester. Wunschkind dennoch, obwohl man den jungen Eltern anbietet, die Adoption rückgängig zu machen. Ein stiller, aber kompetenter Bruder und eine Schwester, die Becker aus literarischen Gründen am Leben erhält, obwohl sie bei der Geburt starb.

Becker schreibt sich zum Herrscher seiner Vita

Allein diese Szene ist ein starkes Stück, zeigt wie er sich mit diesem Buch zum literarischen Herrscher seiner Lebensgeschichte macht und auch ein Stück Trauerbewältigung über den Tod seiner Eltern beinhaltet. So ist dieses Buch, vergleichbar vielleicht „Die Asche meiner Mutter“ von Frank McCourt vor etlichen Jahrzehnten, eine Familiengeschichte, die heraussticht durch ihre genauen Beschreibungen der Milieus und der Situationen.

Arbeiter schreiben kaum Tagebücher, pflegen keine Stammbäume. So aber ist dies Beckers sehr gelungener, packender Versuch, ein Stück der eigenen Geschichte festzuschreiben. Denn seine Herkunftsfamilie gibt es nicht mehr. Oder besser gesagt: Becker hat ihr hier das literarische Denkmal gesetzt.

Martin Becker, Die Arbeiter, Luchterhand Verlag, 300 Seiten, 22 Euro