Essen. Was tun, wenn Liebe zur Last wird? Toxisches Verhalten der Eltern hat tiefgreifende Folgen. Experten verraten, was Betroffene tun können.
Toxisches Verhalten in der Familie kann weit mehr sein als gelegentliche Auseinandersetzungen oder Missverständnisse – es hinterlässt langfristige Spuren im emotionalen Leben der Kinder. Was können Betroffene tun, um sich von schädlichen Mustern zu befreien? Zwei Therapeuten beantworten die wichtigsten Fragen und geben Tipps.
Warnsignale: So erkennen Sie toxische Eltern
Die Berliner Therapeutin Hannah Hebenstreit erklärt, dass Kinder das toxische Verhalten der Eltern häufig nicht direkt als solches erkennen. Oft verberge sich schädliches Verhalten hinter vermeintlich gut gemeinten Handlungen. „Toxische Eltern orientieren sich in ihrem Erziehungsstil meist an dem, was sie von ihren eigenen Eltern gelernt haben. Was sie selbst als ‚normal‘ erlebt haben, geben sie dann an die nächste Generation weiter“, sagt die Therapeutin. Viele toxische Verhaltensmuster wie emotionale Erpressung oder übermäßige Kritik würden aus den eigenen Kindheitserfahrungen übernommen.
Auch der Berliner Psychotherapeut Christoph Uhl aus Berlin sieht zwischen toxischen Verhaltensweisen und eigener Herkunftsfamilie einen Zusammenhang. Laut Uhl kommen toxische Eltern meistens aus Familien, in denen „zu wenig für die Entwicklung einer starken, selbstbewussten Persönlichkeit getan wurde“. Konnten sie in der Kindheit wenig Selbstvertrauen entwickeln, so versuchen sie oft das eigene Kind übermäßig zu kontrollieren.
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An diesen Faktoren kann man einen toxischen Erziehungsstil erkennen:
1. Ständige Kritik
Für manche Eltern scheint jedes Verhalten ihrer Kinder ein Anlass zur Belehrung zu sein – sei es das Aussehen, die Entscheidungen oder der Lebensstil. Diese unaufhörliche Kritik lässt die Betroffenen in ständiger Selbstzweifel zurück und vermittelt das Gefühl, nie gut genug zu sein.
„Ständiges Kritisieren und Abwerten der Leistungen, Fähigkeiten und Lebensumstände der Kinder kann das Selbstwertgefühl untergraben“, sagt die Berliner Therapeutin und ergänzt: „Auch der ständige Vergleich mit anderen – wobei die anderen natürlich immer „besser“ sind – ist ein Marker für toxisches Verhalten, das auf Dauer die Psyche schwer schädigen kann.“ Besonders schädlich seien Vergleiche mit Geschwistern, weil sie die Konkurrenz statt Zusammenhalt fördern.
2. Überhöhte Erwartungen der Eltern
Eltern, die stets nach Perfektion suchen, übertragen ihre hohen Erwartungen unbewusst auf ihre Kinder – Versagensängste und enormer Druck sind oft die Folgen davon. „Sie akzeptieren die Individualität ihrer Kinder nicht und projizieren stattdessen ihre eigenen Vorstellungen auf sie“, erklärt die Expertin. Werden die Wunschvorstellungen nicht erfüllt, so entstehe immer wieder eine abwertende Haltung: „Durch die Abwertung des Kindes werten sich Eltern mit toxischem Verhalten selbst auf“, so Uhl. Dabei passiere dies bei jüngeren sowie bereits erwachsenen Kindern.
3. Beste-Freundin-Verhältnis
Ein „Beste-Freundin-Verhältnis“ zwischen Eltern und Kindern mag auf den ersten Blick schön wirken, doch es kann langfristig problematische Dynamiken schaffen, so Uhl. Ein enges Verhältnis zu den Kindern sei laut dem Therapeuten durchaus positiv zu bewerten, doch oft fehlten klare Grenzen: „In jeder Eltern-Kind-Beziehung gibt es eine Phase, in der sich das heranwachsende Kind allmählich verselbstständigt oder verselbstständigen will. Aus der anfänglich lebensnotwendigen Bindung an die Eltern erwächst eine eigene Ich-Identität“, erklärt der Psychotherapeut.
Eine zu enge Beziehung zwischen Eltern und Kindern könne es dem Kind erschweren, eigene Freundschaften und Interessen zu entwickeln. „Der Jugendliche gerät dann in einen inneren Konflikt, weil er einerseits sein Bedürfnis nach eigener Identität spürt, es andererseits aber nicht ausleben kann – zu groß ist die Loyalität zu den Eltern.“
4. Kind als Ersatzpartner
Wenn ein Elternteil das Kind unbewusst in die Rolle eines Ersatzpartners drängt, wird ihm eine Verantwortung auferlegt, die es nicht tragen kann. „Dieser Rollentausch überfordert die Kinder und raubt ihnen die Kindheit“, beobachtet Hebenstreit. Langfristig könne diese ungesunde Verschiebung der Rollen zu emotionaler Abhängigkeit und Schwierigkeiten im späteren erwachsenem Leben führen.
5. Grenzüberschreitungen
Bei zu engen Eltern-Kind-Beziehungen werden häufig persönliche Grenzen des Kindes ignoriert oder missachtet. Ob durch unaufgeforderte Eingriffe in die Privatsphäre oder übermäßige Kontrolle – diese Verhaltensweisen können das Vertrauen und die Autonomie der Kinder stark beeinträchtigen. Die Paartherapeutin warnt: „Kinder brauchen allerdings einen geschützten Raum, um sich auszuprobieren und Selbstständigkeit zu lernen.“
6. Manipulation
Laut Paartherapeutin Hebenstreit setzten Eltern oft verschiedene Manipulationstechniken ein, um die Kinder leichter kontrollieren zu können. Häufig würden sie ihren Kindern Vorwürfe machen oder sie emotional unter Druck setzen. Auch Gaslighting, bei dem „Eltern Ereignisse leugnen, Tatsachen verdrehen oder das Kind gezielt für verrückt erklären, damit das Kind an seiner eigenen Wahrnehmung zweifelt und leichter zu manipulieren ist“ gehöre zu den gängigsten Methoden, wie die Expertin erläutert.
Mit all diesen toxischen Verhaltensweisen versuchten die Eltern, ihre Kinder emotional abhängig zu machen: „Die Kinder sollen lernen, die Bedürfnisse der Eltern über ihre eigenen zu stellen“, erklärt sie. Es gebe auch Eltern, die im Zweifelsfall aggressiv werden und zu körperlicher Gewalt greifen. Haben sie das Gefühl, ihre Autorität zu verlieren, würden sie häufig versuchen, das Kind zu unterdrücken. Wie der Psychotherapeut Uhl erklärt, diene es dazu, Angst aufzubauen.
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Paartherapeutin: Toxisches Verhalten hinterlässt tiefe Spuren
Toxisches Verhalten der Eltern hinterlässt tiefgreifende und langanhaltende Auswirkungen auf die Kinder. Laut Hebenstreit haben solche Kinder im späteren Leben häufig Schwierigkeiten damit, gesunde Beziehungen aufzubauen, entwickeln oft ein Suchtverhalten oder sind nicht in der Lage auf eigenen Beinen zu stehen.
Nicht selten haben sie ein niedriges Selbstbewusstsein, da sie „ständiger Kritik und mangelnder Wertschätzung durch die Eltern“ ausgesetzt sind, erklärt die Expertin. Auch Ängste und depressive Verstimmungen können Folgen von toxischem Verhalten sein. „Die ständige Manipulation und Kontrolle durch die Eltern verunsichert sie zutiefst. Manche ziehen sich zurück oder entwickeln eine übertriebene Anhänglichkeit, weil sie keine gesunden Beziehungen aufbauen können“, so Hebenstreit.
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Toxisches Verhalten bei den Eltern erkannt: Was nun?
Die Erkenntnis, dass das Verhalten der Eltern toxisch ist, kann ein schmerzhafter Schritt sein, besonders wenn man jahrelang in dieser Dynamik aufgewachsen ist. Doch was können Betroffene tun? Therapeutin Hebenstreit rät, sich zuerst einmal der eigenen Gefühle und Gedanken bewusst zu werden. Es sei hilfreich sich folgende Fragen zu stellen: Was kann ich tun? Was kann ich nicht ändern? Was brauche ich? Sie würden helfen, die eigenen Bedürfnisse zu erkennen.
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Der zweite Schritt sei klare Grenzen zu setzen. „Das ist gleichzeitig der schwierigste Schritt, denn es ist ein natürliches Bedürfnis, sich die Zuneigung der eigenen Eltern zu wünschen“, sagt Psychotherapeut Uhl. Sich emotional von den toxischen Eltern abzugrenzen sei aber notwendig, um die psychische Gesundheit zu schützen und das Selbstvertrauen wieder zu stärken. „Wenn alle bisherigen Versuche, vor allem die emotionale Distanzierung und das Setzen von Grenzen gegenüber den Eltern, keine Besserung gebracht haben, kann ein Kontaktabbruch sinnvoll sein“, so Uhl. Um das Erlebte besser einordnen und aufarbeiten zu können, empfiehlt der Experte eine therapeutische Begleitung in Betracht zu ziehen.