Berlin. Wer zwanghaft an sich selbst herummäkelt, leidet womöglich an einer Körperdysmorphie. Manche Körperteile stehen besonders im Fokus.

"Ich bin viel zu dick und meine Nase ist auch zu krumm!" – Gedanken wie diese kennen wohl die meisten Menschen. Irgendetwas hat man schließlich immer an sich auszusetzen. Doch was ist, wenn das Herummäkeln überhand nimmt und man sich täglich stundenlang mit seinem Makel beschäftigt?

Genau so geht es Menschen, die unter der körperdysmorphen Störung leiden. Sie sind nämlich der Meinung, mindestens einen oder mehrere körperliche Fehler zu haben, die Außenstehende gar nicht oder nur leicht wahrnehmen. Laut dem MSD Manual bilden sich die Betroffenen sogar manchmal ein, an Haarausfall, Akne, Falten, Narben, "falscher" Gesichtsfarbe oder übermäßiger Gesichts- oder Körperbehaarung zu leiden. Oder es gebe Menschen, die sich hauptsächlich auf Form oder Größe eines Körperteils konzentrieren. Diese beschreiben sie als hässlich, unattraktiv, deformiert, abscheulich oder monströs.

Meistens handele es sich dabei um Körperteile in der Kopf- und Gesichtsregion, wie Dennis Riehle, Pressereferent der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen e.V. (DGZ) auf Anfrage unserer Redaktion erklärt. "Zumeist werden Akne oder Narben als störend empfunden, ebenso zu große oder zu kleine Nasen oder Ohren". Bei Männern gehe es außerdem häufig um die Muskelproportionen an den Oberschenkeln und Oberarmen, so Riehle. Überraschenderweise sei der Bauch laut des DGZ-Pressereferents "kaum das Problem".

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Den Betroffenen selbst fehlt es meistens an Einsicht

Wie aus einem Bericht von MSM Manuals hervorgeht, würden sich Betroffene mit dem entsprechenden, selbst wahrgenommenen Makel täglich stundenlang beschäftigen: Der ständige Blick in den Spiegel und kreisende Gedanken darüber, ob andere Menschen sich wegen des angeblichen Makels über sie lustig machen, seien ständiger Begleiter der Erkrankten. Auf Grund dieser Symtome wird die körperdysmorphe Störung auch als Zwangsspektrumsstörung bezeichnet, wie Riehle erklärt: " Das ritualhafte und zweifelnde Grübeln, Nachsinnen und Hinterfragen und das sich daraus ergebende Kontroll- und Neutralisationsverhalten ist mit traditionellen Zwangsgedanken und Zwangshandlungen vergleichbar".

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Das Ausmaß der Intensität und Dauer der grübelnden Gedanken seien neben dem hohen Leidensdruck daher  ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen einer gesunden Selbstkritik und einer körperdysmorphen Störung, so der Pressereferent der DGZ. Den Betroffenen selbst fehle es aber meistens an Einsicht: "Betroffene bewerten ihre kritische Sicht auf sich selbst als normal und Vermögen nicht zu erkennen, dass ihre Anforderungen an das Selbstbild übertrieben sind", erklärt Riehle.

Die körperdysmorphe Störung hat viele Gemeinsamkeiten mit Essstörungen

Damit die Erkrankung trotzdem mit einer Psychotherapie und möglicherweise Antidepressiva behandelt werden kann, rät Riehle Außenstehenden: "Hilfe ist dann aufzusuchen, wenn sich das soziale Verhalten des Betroffenen verändert, zunehmend Rückzug und Isolation eintreten, Auswirkungen auf das Arbeitsleben, die Freizeit oder das sexuelle Verlangen bestehen und der Alltag in den Hintergrund gedrängt wird".

Auf Grund dieser Symtomatik habe die körperdysmorphe Störung viele Gemeinsamkeiten mit zum Beispiel Essstörungen. Auch die würden, so Riehle, in der modernen Literatur inzwischen manchmal als Zwangsspektrumstörungen angesehen werden. Teilweise würden sich die Ursachen der körperdysmorphen Störung aber trotzdem von Essstörungen unterscheiden und seien wie auch bei anderen Zwangsspektrumstörungen multifaktoriell, sprich: Es gibt sowohl biologische als auch soziokulturelle Risikofaktoren.

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Betroffene neigen zu einem negativen Gesellschafts- und Weltbild

Riehle zufolge sind Frauen zum Beispiel etwas gefährdeter als Männer. "Durchschnittlich erkranken etwa zwei Prozent der Frauen und eineinhalb Prozent der Männer im Laufe des Lebens an einer nach den Kriterien definierten Körperdysmorphie", erklärt der Experte. Oftmals entwickele sich die Krankheit in der Pubertät und zumeist bis zum 30. Lebensjahr.

Betroffene sind laut Riehle insgesamt "überaus selbstkritisch und neigen zu einem negativen Gesellschafts- und Weltbild. Sie sind nicht selten von Haus aus skeptisch, zweifelnd und ständig eigene Leistungen und Aussehen hinterfragend". Darüber hinaus spiele, so Riehle, der Wunsch nach einem Gesehenwerden und mehr Aufmerksamkeit eine Rolle. Weitere auslösende Faktoren könnten ein herabgesetztes Selbstbewusstsein mit einhergehendem Drang zum Vergleich mit anderen Personen, Vorbildern und in den Medien verbreiteten Idealen sein.

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Soziale Medien sorgen für vermehrtes Auftreten von Körperdysmorphie

Hier sieht der Experte einen starken Zusammenhang mit den sozialen Medien: "Insbesondere durch die zunehmende Nutzung der sozialen Medien ist ein vermehrtes Auftreten von körperdysmorphen Störungen zu beobachten". Grund dafür seien "idealisierte Vorbilder", die gerade junge Menschen in der Reifungs- und Findungsphase beeinflussen würden, wie der Pressereferent der DGZ erklärt.

Vor allem die Anonymität des Netzes würden Ausgrenzung und Diskriminierung befördern, was laut Riehle gravierende Folgen mit sich ziehen kann: "Eine Reaktion von Betroffenen hierauf kann die Flucht in eine körperdysmorphe Störung sein. Sie versuchen mit allen Mitteln, wieder Anschluss an die Community sowie Anerkennung und Wertschätzung durch die mediale Welt zu finden". Auf dem Weg dahin seien sie dann auch bereit dazu, sich ständig mit ihrem Aussehen und Erscheinen zu befassen und einem "völlig surrealen Zustand der Perfektion" nachzueifern.

Wie lässt sich diesem gefährlichen Trend also entgegenwirken? Laut Riehle sollte man zum einen "mit aller Deutlichkeit" konsequent gegen Hass und Hetz im Internet vorgehen und zum anderen Aufklärung über ein gesundes Selbstbild leisten. Darüber hinaus müsse das Medienverhalten reflektiert und verändert werden: "Es muss wieder mehr Alltag in der realen Welt verbracht und gerade auch in den Schulen und im Elternhaus vermittelt werden, welche Werte tatsächlich zählen und wie man Bestätigung für die eigene Person abseits der Virtualität finden kann", so Riehle. Es sei wichtig, durch das eigene Verhalten insbesondere der jüngeren Generation ein Gefühl von Annahme, Wertschätzung, Zufriedenheit und Eigenliebe zurückzugeben. Das sei, so Riehle ein "gesamtgesellschaftlicher Auftrag".