Berlin. Viele Kinder erleben Gewalt oder toxisches Verhalten durch ihre Eltern – auch als Erwachsen. Ein Therapeut erklärt, welche Optionen es gibt.

Eine Beziehung geprägt von Gewalt, Kontrolle, fehlendem Respekt und dem permanenten Gefühl, nicht gut genug zu sein. Auf den ersten Blick erscheint es nur logisch, diese toxische Dynamik schnellstmöglich zu verlassen. Was aber, wenn der Beziehungspartner die eigene Mutter oder der Vater ist?

Jochen Rögelein arbeitet als Familientherapeut in München. Er sagt: "Es braucht viel, bis Kinder den Kontakt zu ihren Eltern abbrechen." Die Beziehung zwischen Eltern und Kindern sei eine ganz besondere. Sie abzubrechen könne das Aufgeben von Sicherheit bedeuten. In der Erbengeneration würden außerdem Faktoren wie Angst um das Erbe, Macht, Einfluss oder die eigene Versorgung eine Rolle spielen.

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"Es herrscht höchste Not, wenn das erwachsene oder jugendliche Kind auf die Idee kommt zu sagen: Ich muss das hier beenden, ich halte es nicht mehr aus", sagt Rögelein.

Kontakt zu den Eltern abbrechen: "Wenn ich zunahm, zwang er mich 300 Sit-Ups zu machen"

Yu-Nai, die eigentlich anders heißt, aber anonym bleiben möchte, war 20 Jahre alt, als sie entschied, den Kontakt zu ihren Eltern endgültig abzubrechen. Die heute 31-Jährige wuchs in einem Dorf in der Nähe von Frankfurt auf. Ihre Eltern führten ein koreanisches Restaurant, arbeiteten viel und hatten wenig Zeit für sie und ihre zwei jüngeren Schwestern. "Meine Eltern sind sehr traditionelle Koreaner", sagt sie. "Das bedeutet: Sie sind sehr streng."

Wenn Yu-Nai ein paar Minuten zu spät vom Spielen nach Hause kam oder in der Grundschule schlechte Noten schrieb, gab es vom Vater Schläge mit dem Holzstück. "Wenn ich an Gewicht zunahm, zwang er mich 300 Sit-Ups zu machen", erzählt sie. Statt sie zu schützen, brachte ihre Mutter ihr das Lügen bei.

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Also verheimlichte Yu-Nai, dass sie Skateboard fuhr, versteckte ihre Kleidung hinter dem Müllcontainer im Hinterhof des Restaurants. Log, mit welchen Freunden sie unterwegs war. Es ging so weit, dass ihr Vater mehrere Jahre glaubte, seine Tochter würde aufs Gymnasium gehen und nicht auf die Gesamtschule.

Scheidung und Gewalt: Noch mehr Regeln, noch mehr Schläge

Als Yu-Nai zwölf Jahre alt war, trennten sich ihre Eltern. Ihr Vater wollte ein neues Restaurant in Frankfurt eröffnen und ihre Mutter zurück in ihre Heimatstadt in Nordrhein-Westfalen. "Das war der glücklichste Tag in meinem Leben", sagt sie. Damals dachte sie, sie könne ihre Mutter begleiten. Stattdessen entschied ihr Vater, dass ihre jüngste Schwester – sein Lieblingskind – bei ihm bleiben solle und damit auch Yu-Nai, um auf sie aufzupassen.

"Ich weiß noch, wie wir zu dritt in unserem von oben bis unten vollgestopften Opel saßen und nach Frankfurt gefahren sind", erzählt sie. "Mein Vater hatte kurz vorher wegen des Schulwechsels herausgefunden, dass ich gar nicht aufs Gymnasium ging. Während der Fahrt hat er mir deshalb immer wieder von der Seite ins Gesicht geboxt." Von da an wurde es für Yu-Nai immer schlimmer: Noch strengere Regeln, noch mehr Schläge. Mit 15 Jahren bekam sie am ganzen Körper Neurodermitis, dachte mehrfach an Suizid.

Weil sie die Situation nicht mehr aushielt, wurde sie zur vermeintlichen Vorzeige-Tochter: "Ich traf mich nur noch mit koreanischen Freunden, ging jeden Sonntag brav in die Kirche", erzählt sie. Und es funktionierte, die Schläge wurden weniger – bis zu diesem einen Tag. "Ich war etwas zu lange unterwegs gewesen und hatte meine Schwester in der Zeit allein gelassen", sagt sie. "Da ist mein Vater völlig ausgerastet."

Yu-Nai packte ein paar Sachen, lief zu einer Freundin und vertraute sich ihr an. "Sie erzählte es dann ihrer Mutter, die sofort meine Mutter anrief und mich und meine Schwester in den nächsten Zug nach NRW setzte", erzählt sie.

Kontakt zu den Eltern abbrechen: Welche Gründe gibt es?

Jochen Rögelein sagt: "Gewalt ist für mich ganz klar ein Grund, den Kontakt abzubrechen. Egal ob emotionale, sexuelle, körperliche, finanzielle oder psychische Gewalt." Für den Therapeuten gibt es aber auch andere gute Gründe dafür, den Kontakt zumindest phasenweise einzustellen: Etwa wenn ein Elternteil narzisstisch ist und sich nicht reflektieren oder verändern will.

Er kenne Eltern, die lieber in Selbsthilfegruppen gehen, um sich dort gegenseitig zu erzählen, wie undankbar ihre Kinder doch seien, statt zu versuchen, die Gründe für den Kontaktabbruch zu verstehen. "Die haben ein extremes Unverständnis den erwachsenen Kindern und ihren Gefühlen gegenüber", sagt er. Dabei seien diese oft in der Lage, sehr differenziert zu beschreiben, wie sich ihre Kindheit und die Beziehung zu ihren Eltern angefühlt hat.

Der Therapeut Jochen Rögelein
Der Therapeut Jochen Rögelein © Klaus Sartorius | Unbekannt

Rögelein sagt, er habe einen Fall, wo die Mutter auf keinen Fall an den Sitzungen teilnehmen möchte, weil sie sagt, sie höre sich keine Vorwürfe an. "Das kann man schon so machen. Aber dann braucht man sich nicht wundern, wenn die Tochter irgendwann zu dem Schluss kommt: Das tue ich mir nicht mehr an. Ich werde irgendwann krank in dieser Beziehung und deswegen breche ich sie ab", so Rögelein.

Kontakt zu Eltern abgebrochen: Yu-Nais Eltern sind zurück in Korea

Nach ihrem Umzug lauerte Yu-Nais Vater seinen Töchtern mehrfach vor der Schule auf, versuchte, wieder Kontakt aufzubauen. "Nach einigen Monaten ließ sich meine Mutter wieder auf ihn ein", erzählt sie. Anfangs sei sie nur ab und zu nach Frankfurt gefahren mit dem Vorwand, ihn im Restaurant unterstützen zu müssen. Später wurden die Besuche häufiger und sie entschied, wieder ganz zu ihm zurückzugehen.

Yu-Nai und ihre jüngere Schwester ließ sie bei den Großeltern, damit sie ihre Schule beenden konnten. "Ich habe meine Mutter damals angefleht zu bleiben", sagt Yu-Nai. "Aber sie ist trotzdem gegangen. Das habe ich ihr nie verziehen."

Mittlerweile leben ihre Eltern wieder in Korea. Ab und zu gibt es eine Whatsapp-Nachricht von ihrer Mutter, ansonsten herrscht Funkstille. Yu-Nai sagt: "Ich bin traurig, dass ich keinen Kontakt zu meinen Eltern habe. Bereut habe ich es trotzdem nicht." Am Ende des Tages habe sie sich für sich selbst entschieden – auch wenn das eine Entscheidung gegen die Familie bedeutete.

Probleme mit den Eltern: Wann ein Therapeut helfen kann

Nicht immer sind die Gründe für einen Kontaktabbruch so gravierend wie in Yu-Nais Fall. Dann kann ein Therapeut dabei helfen, zu vermitteln und gegenseitiges Verständnis aufzubauen. "In Familientherapien mit erwachsenen Kindern schauen wir immer, ob die Gefahr für einen Kontaktabbruch besteht", erklärt Rögelein. Besonders dann, wenn die Kinder in der Vergangenheit bereits mit einem Kontaktabbruch gedroht haben, würde die Therapie oftmals als letzter Strohhalm betrachtet werden, um das zerrüttete Verhältnis doch noch zu retten.

"Ich finde es wichtig, auch die Eltern zum Sprechen zu bringen und sie zu fragen, wie sie die damalige Zeit empfunden haben", sagt Rögelein. "In welcher Lebenssituation befanden sie sich? Aus welcher Familie stammen sie? Mit welchen Glaubenssätzen sind sie in die Welt entlassen worden? Warum haben sie sich so und so entschieden?" Im nächsten Schritt könne man gemeinsam reflektieren, wie sie ihr Verhalten heute einordnen würden. Für die erwachsenen Kinder kann das ein wichtiger Schritt sein, um die eigene Perspektive auf die Eltern und den Zorn, den sie oftmals verspüren, zu reflektieren.

Familientherapie habe auch viel mit Versöhnungsarbeit zu tun, so der Therapeut. Dafür müssen jedoch beide Seiten bereit sein, zuzuhören und an der Beziehung zu arbeiten.

Dieser Artikel erschien zuerst am 25.12.2022