Berlin/Essen. Zehn Millionen Menschen nutzen die Bus- und Bahn-’Flatrate’. Da geht noch mehr, meinen Verkehrsunternehmen. Doch das führt in ein Dilemma.
- Das Deutschlandticket beschert Nahverkehrsunternehmen Millionen-Verluste.
- Bund und Länder streiten darum, die Verluste auszugleichen.
- Der Verband der Verkehrsunternehmen glaubt, dass man für das „D-Ticket“ noch mehrere Millionen Neu-Kunden gewinnen könnte.
- Wo das Deutschlandticket derzeit steht - und welche Aufgaben noch zu lösen sind.
Weil sich Bund und Länder um die Finanzierung streiten, gibt es beim Deutschlandticket nach wie vor keine Planungssicherheit fürs nächste Jahr. Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) drängt darauf, dass alles getan wird, dass das 49-Euro-Ticket für Nutzerinnen und Nutzer bis auf weiteres nicht teurer wird - und dass es überhaupt erhalten bleibt. Wäre es da nicht hilfreich, wenn viel mehr Menschen über ihren Schatten springen, und sich die Bahn-Flatrate anschafften? Dann käme doch mehr Geld in die Kasse… Beim Verband Deutscher Verkehrsunternehmen winkt man ab: „Dieses Gedankenspiel bringt uns nicht weiter!“ Fragen und Antworten:
Wie viele Neukunden bräuchte es, um das Deutschland-Ticket insgesamt auskömmlich über die Kundeneinnahmen zu finanzieren?
„Wenn deutlich mehrere Millionen Menschen zusätzlich das D-Ticket haben, hätten man zwar mehr Einnahmen in der Branche“, sagt ein VDV-Sprecher: „Doch die Millionen zusätzlicher Fahrgäste könnten durch die überfüllten Busse und Züge das Ticket gar nicht richtig nutzen“, meint er. „Damit müsste man also das ÖPNV-Angebot ausbauen, womit wir wieder bei den Finanzen sind, die nicht da wären.“
Deutschlandticket: 70 Prozent mehr Kunden sind möglich
Welche Zahl an Neukunden hält man beim VDV für das D-Ticket für realistisch?
Zurzeit sind bundesweit etwa 10 Millionen D-Tickets in Umlauf. „Das Gesamtpotenzial, wenn man alles ausschöpft, liegt bundesweit bei 17 Millionen“, schätzt man beim VDV - Stamm- und Neukunden zusammengerechnet. Aber man sieht „die Politik gefordert, die Rahmenbedingungen zu setzen“, sagt der Sprecher.
Woran hakt es derzeit am meisten bei der Gewinnung neuer Kundinnen und Kunden für das Deutschlandticket?
„Wir können im Moment diverse Zielgruppen - bundesweit drei Millionen Studierende, Familien, Hundebesitzer – nicht richtig ansprechen, da uns derzeit die politischen Rahmenbedingungen und Unsicherheiten diesen Weg verwehren“, beklagt der VDV. „Gerade das D-Ticket Uni für die Studierenden wäre für Bund und Länder für kleines Geld zu haben“, meint man beim VDV.
Lesen Sie auch: Das Ruhrgebiet ist die wahre Pendler-Hochburg in NRW
Ist das Deutschlandticket - Stand jetzt - ein Erfolg oder noch nicht?
Der VDV hebt hervor: „Derzeit haben wir acht bis zehn Prozent echte System-Neueinsteiger. Die sind vorher zum Beispiel Auto gefahren“, sagt der Sprecher. Viel zu wenig würden aus seiner Sicht die „fast 50 Prozent Neuabonnenten (gewürdigt; Red.), die vorher Einzeltickets oder jeweils ein Monatsticket gekauft haben – und sich immer wieder neu für oder gegen eine Fahrt mit dem ÖPNV entschieden haben. Mit dem D-Ticket gibt es bei den Neuabonnenten einen Flatrate-Effekt, der die Reiseweiten verlängert und die Fahrtenhäufigkeiten erhöht. Das ist im Sinne der Mobilitätswende, führt aber jetzt schon zu teilweise überfüllten Zügen.“
VDV: Das Deutschlandticket darf vorerst nicht teurer werden
Welches sind die Haupt-Argumente von Pkw-Nutzern gegen die Verkehrsmittel Bus und Bahn?
Laut VDV sind die Haupt-Aspekte, die in Umfragen genannt werden: „Das verkehrliche Angebot ist räumlich - vor allem auf dem Land - und zeitlich (morgens/nachts in den Ballungsgebieten) zu gering.“
Lesen Sie auch: Jobticket - Hundertausende Beamte in NRW gehen leer aus
Welche Rolle spielen die Ticket-Kosten?
Der Ticket-Preis ist laut VDV „nicht der wichtigste Faktor“, der Menschen davon abhält, Bus und Bahn zu nutzen. Gleichwohl zeige sich beim Deutschlandticket, dass es sehr wichtig sei, dass es erstmal bei den 49 Euro Einstands-Preis pro Monat bleibe. „Wir sind noch immer in der Einführungsphase“, hebt man beim VDV hervor, der darauf drängt, „dass sich die Kundinnen und Kunden auf den versprochenen Preis verlassen können. Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass der Preis stetig steigt und bereits innerhalb der zweijährigen Einführungsphase teurer sind.
„Nur ganz wenige Leute sind hochüberzeugt vom Auto“
Welche Rolle spielen Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit von Bus und Bahn, sich ein D-Ticket anzuschaffen?
„Nichtkauf-Gründe“ würden laut Umfragen der Marktforschung vor allem auf dem Land mit „fehlendem/unzureichendem ÖPNV-Angebot“ begründet, sagt der VDV. Man sehe bei Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit im Schnitt bundesweit „gute Werte“, behauptet der Verband. Aber es gebe „Ausreißer“: Dort, „wo die Kapazität an ihre Grenze gekommen ist – und die in den Jahren gestiegene Fahrgastnachfrage nicht mehr zur Infrastruktur, der Personal- und Fahrzeugverfügbarkeit passt. Da muss investiert werden, das wurde Jahrzehnte vernachlässigt, fordert der VDV.
Wen haben Verkehrsunternehmen als Deutschland-Ticket-Neukunden im Blick?
„Wir sind auf dem Mobilitätsmarkt im Wettbewerb vor allem mit dem (Zweit-)Pkw. Wenn sich die Leute für den Pkw entscheiden, hat das in der Regel zunächst mit dem unzureichenden Bus- und Bahn-Angebot zu tun“, sagt der VDV-Sprecher. „Nur ganz wenige Leute sind hochüberzeugt vom Pkw und können sich aus unterschiedlichen Gründen nichts Anderes vorstellen, als im Auto zu sitzen“, glaubt man beim VDV.
Lesen Sie auch:Trotz Deutschlandticket: Mehrheit meidet Busse und Bahnen
Das Auto ist bequem und im Stau sitzt es sich angenehmer, statt im vollen Bus zu stehen: Hat der ÖPNV auf längere Sicht überhaupt die Chance, dem etwas entgegen zu setzen?
Beim VDV glaubt man, „die Chance ist groß“, sagt der Sprecher: „Es gibt ungezählte Beispiele, die belegen: Ist das Angebot gut, steigen die Leute um. Zudem wird es so sein, dass Autofahren zunehmend unattraktiver wird: Kaufpreis pro Auto, Stau, Parkraumbewirtschaftung, Tempo-30-Zonen, CO2-Bepreisung von fossilen Antriebsarten.“
Das Deutschlandticket ist „der Anfang einer Revolution“
Wie lassen sich die erhofften Neukunden dann für den Umstieg auf Bus und Bahn gewinnen?
„Die Schlüsselfaktoren sind neben einem ausreichenden Fahrplan-Angebot vor allem Qualität, Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit. Darüber hinaus müssen wir bei den Themen Sauberkeit und gefühlte Sicherheit besser werden“, sagt der VDV. Er beklagt, „wir kommen aus einer chronischen Unterfinanzierung über Jahrzehnte und sind nun an vielen Stellen aufgefordert, zu wachsen und moderner zu werden.“
Inwieweit ist die Bedeutung der „Tarif-Revolution“ durch das Deutschland-Ticket vielen Menschen, denen ihre Mobilität wichtig ist, wirklich bewusst?
„Als Branchenverband sehen wir das D-Ticket derzeit als Anfang einer Revolution – es gibt noch sehr viele Schritte zu gehen, um wirklich nachhaltige und weitere große Fortschritte im Sinne der Mobilitätswende zu sehen“, sagt der Sprecher: „Die Revolution wird erst erfolgreich sein, wenn dem D-Ticket das D-Angebot folgt.“
Lesen Sie auch: D-Ticket - Sozialticket in NRW kommt ab Dezember - die Infos
Tatsächlich aber bringt das D-Ticket Verkehrsunternehmen jeden Monat Millionen-Verluste, weil es zumeist viel günstiger ist als bisherige Monatstickets. Statt mehr Angebot wird mancherorts inzwischen am Angebot gekürzt...
„Die Lage ist angespannt und geprägt von einer erheblichen Unsicherheit“, beklagt der VDV und erläutert: „Die Unternehmen müssen Wirtschaftspläne aufstellen und wissen nicht, wie die Politik entscheidet. Es führt auch dazu, dass man „parallel“ planen muss, da nicht garantiert ist, dass das D-Ticket wie bisher weiter angeboten werden kann. Das führt alles zu erheblichem Mehraufwand und belastet die Kolleginnen und Kollegen, die seit der Einführung des 9-Euro-Tickets ohnehin schon stark beansprucht worden sind.“
„Alle Kraft“ im Einsatz, damit das Deutschlandticket nicht scheitert
Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) drängt Verkehrsverbünde, Kosten zu senken - in der Verwaltungsstruktur. Kann das die Finanz-Probleme lösen?
„Es gibt immer Einsparpotenzial. Darüber kann man auch reden“, entgegnet der VDV: „Aber damit kann man nicht hunderte Millionen Euro einsparen“, wendet der Verband der Verkehrsunternehmen ein und hält dem Bundesverkehrsminister vor, „hier bedauerlicherweise von seiner Verantwortung ab(zu)lenken.“ Faktisch gehe es laut VDV im Streit um den Ausgleich der Verluste der Verkehrsunternehmen durch das D-Ticket ‘nur’ um 200 Millionen Euro, die der Bund seinerseits zusätzlich zuschießen müsste, sagt der VDV-Sprecher: „Denn die Länder haben ihren Anteil von ebenfalls 200 Millionen Euro bereits zugesagt.“
Lesen Sie auch: Deutschlandticket in Gefahr? Wie es um seine Zukunft steht
Was würde es für die allgemeine Entwicklung der Mobilität in Deutschland bedeuten, sollte das Deutschlandticket scheitern?
„Dies wäre ein beispielloser Rückschritt, der Monate und Jahre an erfolgreicher Arbeit – und auch Politik – zunichtemachen würde“, beschreibt man beim VDV die Lage. Würde das Deutschlandticket scheitern, „würde nachhaltig Vertrauen verspielt gegenüber den Fahrgästen“, sagt der Sprecher. Beim Verband der Verkehrsunternehmen setze man daher „all unsere Kraft ein, dass es nicht scheitert“, versichert der Sprecher. Und er ergänzt: „Diesen Eindruck habe ich auch von Bund und Ländern.“