Dortmund. Gemüse und Fisch aus einer ehemaligen Kokerei? Was in Dortmund probiert wird, könnte revolutionär für die Versorgung mit Lebensmitteln werden.
Von den ehemaligen Kühltürmen der Kokerei Hansa im Dortmunder Norden stehen nur noch die Stahlgerippe. Doch dahinter schimmern die silbrigen Kunststoffdächer von zwei langen Gewächshäusern in der Sonne. Sie wirken wie futuristische Fremdkörper in dieser altindustriellen Umgebung, in der auch Jahrzehnte nach dem Betrieb noch ein Geruch nach kaltem Ruß und Staub in der Luft liegt. Wo bis Ende 1992 unter Hitze und Rauch Koks gebacken wurde, wachsen jetzt Kräuter und Gemüse – nachhaltig, wasserschonend und ökologisch. In der kombinierten Versuchsanlage der Fachhochschule Südwestfalen sollen bald auch Speisefische schwimmen.
Aquaponik nennt sich das Prinzip. Im Grunde ist es ganz simpel: Aquaponikanlagen kombinieren Fisch- und Pflanzenproduktion in einem Kreislaufsystem, indem die Ausscheidungen der Fische zur Düngung der Pflanzen, die in Hydrokulturen rasch wachsen, verwendet werden.
Frisches Gemüse für das Ruhrgebiet
Neu ist das nicht. Schon vor tausend Jahren wurden in chinesischen Reisfeldern Karpfen gehalten. Doch die Probleme liegen in den Details. In Dortmund soll mit Fördermitteln der Europäischen Union und gemeinsam mit weiteren wissenschaftlichen Partnern in einem „Reallabor“ erprobt werden, ob sich solche Anlagen für die nachhaltige Nahversorgung der Bevölkerung mit frischen Lebensmitteln im Ruhrgebieteignen.
Rolf Morgenstern wartet im Schatten und vertreibt einige lästige Mücken, die ihn umschwirren. „Die züchten wir hier leider auch“, grinst der Chemie-Ingenieur der FH Südwestfalen und geht in das Gewächshaus. Knallrot wachsen in bewässerten Töpfen Chilischoten und Tomaten. In langen Hochbeeten, die stetig von unten bewässert werden, sprießen Basilikum, Rübchen, Salat, Gurken, Paprika, Mangold und Spinat. Die Pflanzen stehen in gelochten Kunststoffplatten, ihre Wurzeln reichen ins darunter fließende Wasser.
Nebenan stehen große schwarze Wasserbehälter, in denen künftig Graskarpfen und Schleien schwimmen sollen. Weitere Bottiche speichern Regenwasser oder dienen der Wasseraufbereitung, über armdicke Schläuche fließt von dort das gefilterte Wasser in die Beete. Es ist feucht und heiß unter dem Kunststoffdach, die Luft steht.
Ein perfekter Kreislauf
„Wir können uns doch duzen, oder?“, sagt der großgewachsene Wissenschaftler und taucht seine Hände in einen der Wasserbottiche, in dem fingerhutgroße Kunststoffelemente als Biofilter kreisen. „Die Fische geben ihre Ausscheidungen in das System“, erklärt Rolf. Diese werden von Bakterien, die sich an den Biofiltern ansiedeln, in nährstoffreiches Nitrat umgewandelt. Das Nitrat düngt die Pflanzen - und das gefilterte Wasser fließt wieder zu den Fischen. „Wasser und Nährstoffe werden in einem perfekten Kreislauf geführt. Unser Ziel ist es, überhaupt kein Abwasser zu produzieren.“ Wasserverluste, etwa durch Verdunstung, werden durch Regenwasser ersetzt, erklärt der 53-jährige Chemie-Ingenieur. „Wir geben nur Wasser und Nährstoffe hinein, hinten kommen Gemüse und Fische heraus.“
Teil der Internationalen Gartenschau 2027
Urban Farming nennt er das, also Landwirtschaft in der Stadt. Ersetzen könne dieser Anbau im Kleinmaßstab die großflächige Produktion von Getreide, Mais und Kartoffeln allerdings nicht. „Hier werden vorwiegend Kräuter, Tomaten oder Gemüse produziert. Das wird die Welt nicht ernähren.“ Aber Aquaponik könne ein Baustein sein für eine gesunde, hochwertige und frische Lebensmittelproduktion nahe am Verbraucher. Da die Aquaponikanlage thematisch bestens zur Internationalen Gartenausstellung (IGA) im Jahr 2027 passt, soll sie ein zentraler Teil der großen Gartenschau werden.
Als alternatives ökonomisches Konzept sollen die Produkte der Anlage nicht verkauft werden. Die Anbaufläche der beiden 200 Quadratmeter großen Gewächshäuser wäre für einen konkurrenzfähigen Preis nicht ausreichend. „Man bräuchte 5000 Quadratmeter und mehr, um so effektiv produzieren zu können, dass man die Produkte einem Supermarkt anbieten könnte. Derart große Flächen gibt es in den Ruhrgebietsstädten kaum.“
Doch kleine Aquaponikanlagen eigneten sich sehr gut für Hobbygärtner und Selbstversorger. Daher werden Parzellen der Hydrokulturbeete künftig an Bürger vermietet. Die Forscher wollen herausfinden, ob dieses Konzept auf Dauer finanziell tragfähig ist. „Unsere Zielgruppe sind Leute, die gerne eigenes Gemüse ernten wollen, aber keinen Schrebergarten besitzen oder wenig Ahnung vom Gärtnern haben“, erklärt Rolf. „Hier werden die Pflanzen immer perfekt bewässert und gedüngt, man muss nicht umgraben oder Unkraut zupfen und Schnecken gibt es auch keine.“ Die Leute müssten quasi nur pflanzen und ernten.
Modellprojekt als Vorbild
Die Dortmunder Pilotanlage ist Teil des von der EU geförderten Projekts „ProGireg“. Das Kürzel steht für „Produktive grüne Infrastruktur in postindustriellen Stadterneuerungsgebieten“. In den Vorreiterstädten Dortmund, Turin und Zagreb wurden bereits verschiedene „Reallabore“ eingerichtet. In dem ebenfalls von der EU geförderten Folgeprojekt „Incitis Food“ wollen die Forscher ähnliche Aquaponiksysteme in mehreren afrikanischen Ländern erproben. Ziel sei neben einer besseren Nahversorgung der Menschen mit frischen Lebensmitteln, die Anlagen auch als neues Geschäftsmodell zu etablieren. Mögliche Überschüsse könnten von den Betreibern dann auf dem Markt verkauft werden.
Ob künftig querbeet im Ruhrgebiet ähnliche Aquaponik-Gewächshäuser sprießen werden? „Möglich“, meint Rolf und schnappt wieder nach einer Mücke. „Wir wollen das in die Breite bringen“, sagt er und öffnet ein Ventil. Sofort rauscht frisches Wasser in das Kräuterbeet.