Essen/New York. KI-Pionier: Technologie wird dabei helfen, Menschheitskrisen wie den Klimawandel zu meistern. Doch dabei wird es Verlierer und Gewinner geben
Sichtlich gut gelaunt sitzt Meinolf Sellmann für das Interview vor seinem Laptop in New York, hinter sich ein großes Luftbild der Hochhaus-Skyline von Manhattan. Der Weg bis zu diesem Schreibtisch in den USA war für den 51-jährigen Westfalen ebenso lang wie rasant. Sellmann gilt als absoluter Kenner der Möglichkeiten rund um Künstliche Intelligenz und hat eine steile Karriere gemacht.
Nach einem Auslandssemester an den berühmten Bell Laboratories in den USA promovierte er 2002 in Paderborn, danach wurde er Professor an der Brown University, eine Elite-Uni in den USA. Dort leistete er sieben Jahre lang Pionierarbeit zu selbstlernenden Optimierungsverfahren, für die er mehr als 20 internationale Forschungspreise gewonnen hat.
Anschließend leitete er Forschungsgruppen beim IT-Giganten IBM, arbeitete als Direktor für maschinelles Lernen für den Triebwerkhersteller General Electric und optimierte die Lieferketten bei Shopify. Mit der von ihm erzeugten KI verbesserte er den Verkehr in Singapur, die Flugpläne einer amerikanischen Airline und beschleunigte Finanztransaktionen für eine große europäische Bank. Inzwischen hat er seine eigene Firma InsideOpt gegründet und pendelt zwischen USA und Europa hin und her. Christopher Onkelbach sprach mit ihm über die Chancen und Risiken von KI.
Herr Sellmann, müssen wir Angst haben vor Künstlicher Intelligenz?
Meinolf Sellmann: Nein, sie ist ein Segen. Sprachmodelle wie ChatGPT, die im Moment alle in ihren Bann schlagen, sind aber nur ein Ausläufer der Möglichkeiten von KI. Rechner werden immer besser darin, die Welt darzustellen, Vorhersagen zu treffen und Entscheidungshilfen zu geben. Einer Produktionsmanagerin bei Volkswagen hilft ChatGPT nicht, ihre Lieferketten am Laufen zu halten und immer ausreichend Teile für die Produktion vorzuhalten. Aber genau das kann KI.
Welche Entwicklung wird KI nehmen?
Wir müssen verstehen, dass hier eine Technologie zur Verfügung steht, die viel breiter einsetzbar ist als nur in Sprachmodellen, die unglaubliches Potenzial besitzt, effizienter und wirtschaftlicher zu werden, um große Herausforderungen zu meistern wie den demografischen Wandel, Fachkräftemangel, Rohstoffknappheit und Klimakrise. Mit dieser Vision habe ich InsideOpt gegründet. Wir arbeiten genau an der Schnittstelle zwischen Vorhersagen und Planen, wir beraten und stellen Software zur Verfügung, um Firmen produktiver und krisensicherer zu machen.
Wie kann KI im Alltag zum Klimaschutz beitragen?
Es gibt eine gigantische Zahl von ineffizienten Strukturen. Zum Beispiel das Auto. Es steht zu 95 Prozent der Zeit nutzlos herum. Wenn man autonom fahrende Fahrzeuge hätte, liegt der größte Vorteil nicht darin, dass Sie nicht mehr am Steuer sitzen müssen, sondern dass das Auto ohne Insassen fährt. So wird einfacher, das Auto zu teilen, und man braucht insgesamt viel weniger Autos.
Was wäre der Vorteil?
Das würde eine massive Effizienz-Steigerung bedeuten. Stellen Sie sich vor, wir bräuchten nur noch ein Viertel der Autos und hätten trotzdem jederzeit ein selbstfahrendes Elektroauto zur Verfügung. Heute sind die Autos zu groß für die Stadt und zu klein für den Einkauf bei Ikea. In Zukunft verbrauchen wir dank KI weniger Rohstoffe und Energie bei der Herstellung. Ein gutes Beispiel ist auch das Klopapier in der Pandemie.
Sie meinen, die plötzliche Knappheit, weil Leute Klopapier gehamstert haben?
Genau. Der Verbrauch ist normalerweise konstant. Wenn nun Konsumenten hamstern, geraten die Lieferketten durcheinander. Die Supermärkte erhöhen ihre Bestellungen über Bedarf, weil sie ein Geschäft wittern. Die Hersteller steigern ihre Produktion, und die Rohstofferzeuger arbeiten rund um die Uhr. Wochen später bricht die Nachfrage ein und man sitzt auf dem Überschuss, der gelagert oder vernichtet werden muss. Dasselbe ist zu Beginn des Ukrainekrieges in Deutschland mit der Nachfrage nach Wurstwaren passiert. Die Metzger orderten mehr Fleisch bei den Erzeugern, die dann ganze Bestände schlachteten. Jetzt sind die Tiefkühltruhen der Konsumenten voll. Das ist weder effizient noch nachhaltig.
Und wo kommt die KI ins Spiel?
KI kann Entwicklungen vorhersehen und sie durch intelligente Planung abfedern. Sie verringert einseitige Abhängigkeiten von Lieferanten, optimiert die Produktion und die Lagerhaltung. An jeder Stelle der Lieferkette entstehen dadurch Puffer. Durch eine robustere Planung entsteht für alle Seiten mehr Sicherheit. Das kann KI heute schon leisten.
Welche Einsatzfelder sehen Sie außerdem?
Bei der Bahn, im Flugverkehr oder in der Logistik gibt es ein riesiges Einsatzfeld für KI. Moderne Systeme sind in der Lage, so zu planen, dass trotz Störungen der Betrieb kosteneffizient weiterläuft. Der Pilot fällt aus, eine kaputte Weiche legt den Zugverkehr lahm: Heute reicht eine lokale Störung und das ganze System ist beeinträchtigt. Die KI kann ein Netzwerk aber für verschiedene Szenarien robust aufstellen, nicht nur für die Durchschnittssituation. Auch bei der Steuerung von erneuerbarer Energie kann sie helfen. Wenn ich eine bessere Vorhersage der regenerativen Stromerzeugung und des Energiebedarfs habe, kann ich mit KI die optimale Menge fossiler Energie bereitstellen - und viel CO2 sparen.
Wo sehen Sie die Risiken?
Ein so großer technologischer Umbruch erzeugt immer Gewinner und Verlierer. Künftig wird die KI viele Aufgaben übernehmen, die heute von qualifizierten Kräften erledigt werden. Studien sagen voraus, dass 45 Prozent aller Bürojobs wegfallen könnten. Das betrifft aber auch Bereiche wie Medizin oder Bildung. Wenn wir, wie oben beschrieben, weniger Autos benötigen, brauchen wir auch weniger Arbeiter in den Fabriken und bei Zulieferern. Das gilt für viele Branchen.
Was bedeutet das für eine Gesellschaft?
Wenn es Gewinner und Verlierer gibt, werden auch Lebenserwartungen enttäuscht. Und wenn Menschen ihre Arbeitskraft nicht mehr verkaufen können, kann die fehlende Aufstiegsperspektive zu politischen Umbrüchen führen. Es können sich Milieus von Enttäuschten bilden, was Populisten für sich nutzen könnten.
Wie wäre das zu verhindern?
Es macht mir Sorge, dass angesichts dieser bevorstehenden Umwälzungen zu wenig darüber geforscht und geredet wird. Natürlich gibt es erste Analysen, aber dem Thema gebührt mehr Aufmerksamkeit, nicht nur in den Akademien, sondern auch in Talkshows, an politischen Stammtischen, in den Wohnzimmern und Schulen. Die Frage ist doch: Wie hält man eine Gesellschaft zusammenhält, in der ein signifikanter Teil der Bevölkerung seine Arbeitskraft nicht mehr verkaufen kann? Das Thema KI ist für uns alle nicht nur ein technologisches, sondern auch ein soziologisches.
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Brauchen wir Regeln für den Einsatz von KI?
Absolut! Wir brauchen dringend eine Regulierung, insbesondere was die Verbreitung der Technologie angeht, und auch bestimmte Anwendungen müssen reguliert werden, zum Beispiel bei der Nutzung von KI bei Einstellungen in Betrieben. Aber Regulierung darf auf keinen Fall verhindern, dass echte KI-Unternehmen in Europa entstehen. Ich sehe in dieser Hinsicht den Regulierungsvorschlag kritisch, der gerade im europäischen Parlament verabschiedet wurde. Wir können die Technologie mit Gesetzen nicht einfrieren. Der richtige Weg, die Zukunft der Technologie zu beeinflussen, liegt darin, sie selbst zu gestalten. Dazu braucht es vor allem mehr europäisches Unternehmertum.
Was muss also geschehen?
Die Technologie wird kommen. Doch die Folgen müssen wir jetzt regeln. Dabei kann die Unsicherheit, wer gewinnt und wer verliert einen gesellschaftlichen Konsens darüber ermöglichen, wie wir miteinander leben und den wachsenden Wohlstand teilen wollen. Ökonomen, Psychologen, Politologen, Soziologen – sie alle können hierzu Visionen entwickeln, in denen KI zum Lebensvorteil für alle Menschen wird. Gleichzeitig sollte die EU KI-Unternehmen fördern.
Kann KI trotz dieser Folgen ein Segen sein?
Ich bleibe dabei, KI ist ein Segen. Wir können uns Verschwendung nicht länger leisten. Wir brauchen die Technologie, um effizienter zu werden. KI wird helfen, uns den großen Herausforderungen dieses Jahrhunderts erfolgreich zu stellen. Wir sollten optimistisch und mutig sein, aber wir dürfen nicht länger mit dem Diskurs warten, wie wir gesellschaftliche Teilhabe jenseits von Erwerbsarbeit regeln und den Strukturwandel gerecht gestalten wollen. Ich sehe eine sehr lebenswerte Zukunft.