Düsseldorf. Josef Hovenjürgen (CDU) befürchtet, dass sich das Ruhrgebiet abhängen lässt, weil es der Industrie keine Chance mehr lasse.

Das Ruhrgebiet ist sauberer und grüner geworden. Es laufe aber auch Gefahr, seine Identität zu verlieren, warnt Josef Hovenjürgen (CDU), im Gespräch mit Matthias Korfmann: Das Revier verliere sein Gesicht, weil es kaum noch Flächen für Industrie-Arbeitsplätze vorhalte. Mögliche Folge: das Ausbluten der Region.

Herr Hovenjürgen, welchen Eindruck haben Sie aktuell vom Ruhrgebiet?

Josef Hovenjürgen: „Wir sind leider in allen Belangen noch nicht schnell genug. Ich war neulich mit einer Delegation der Ruhr-Universität in Maastricht, wo in kurzer Zeit ein großer Campus entstand, der auf eine ganze Region ausstrahlt. Dort gehen Verwaltung, Hochschule und Industrie vorbehaltlos miteinander um und stärken die regionale Wirtschaft. Forschung und Lehre liegen direkt neben einem Chemie-Standort. Das ging dort alles sehr schnell. Bei uns brauchen solche Entwicklungen einfach zu viel Zeit.

Stimmt etwas nicht mit der Ruhrgebietsmentalität?

Hovenjürgen: Es geht hier nicht nur um die Mentalität des Ruhrgebiets, es ist ein grundsätzliches Problem. Die Niederländer probieren alles aus, was nicht ausdrücklich verboten ist. In Deutschland hält man alles für verboten, was nicht ausdrücklich erlaubt ist. Im Ruhrgebiet kommt noch etwas hinzu: Es gibt immer noch den Glauben, es könne alles so bleiben, wie es ist. Tatsächlich wartet aber niemand auf uns, im Gegenteil. Praktisch alle Länder um uns herum sind auf der Überholspur: die Osteuropäer, Benelux, Südeuropa.

Sie attestieren dem Revier mangelnde Schnelligkeit. Wo kommt das her?

Hovenjürgen: Generationen von Menschen waren durch Kohle und Stahl verlässlich beschäftigt. Das gab den Familien Sicherheit. Das Unternehmen, die Knappschaft, die Wohnungsbaugesellschaft kümmerten sich. Im benachbarten Münsterland zum Beispiel lagen die Dinge anders, weil die Menschen dort flexibel sein mussten. Sie fragten sich: Was muss ich tun, um arbeiten zu können? Im Ruhrgebiet lautete die Frage: Wer tut was für mich? Eigenverantwortung und Eigeninitiative müssen zur DNA des Reviers werden.

Was braucht das Ruhrgebiet vor allem?

Hovenjürgen: Flächen für Arbeit. So erfolgreich Bochum mit der Reaktivierung der Opel-Fläche ist, es bleibt ein Mangel: Mit Opel hatten wir dort in drei Werken rund 160 Hektar Industrieflächen. Bei der jetzt vermarkteten Fläche ,Mark 51°7‘ bleiben von rund 70 Hektar am Ende rund 44 Hektar nutzbare Fläche übrig. Diese Fläche ist überwiegend vermarktet. Industriell genutzte Fläche ist jedoch nicht dabei.

Das alte Ruhrgebiet war laut und schmutzig. Neben großen Fabriken will doch heute keiner mehr wohnen, oder?

Hovenjürgen: Heute wird doch nicht mehr so produziert wie vor 60 Jahren. Die Lärm- und Emissionsbelastungen gehen zurück. Es geht bei dem Flächen-Thema um Grundsätzliches: Das Ruhrgebiet entstand, weil die Menschen dorthin zogen, um zu arbeiten. Hätte damals schon unser heutiges Bundes-Planungsrecht gegolten, hätten sie sich dort nicht ansiedeln dürfen. Dann gäbe es Essen und Duisburg, wie wir sie kennen, nicht. Es ist doch - am Beispiel ,Mark 51°7‘ betrachtet - irre, dass da, wo über Jahrzehnte Industrie war, heute nichts mehr entstehen darf.

Wenn ich im Ruhrgebiet keine Arbeit mehr generieren kann, werden die Konsequenzen ernst sein. In den sozialen Brennpunkten leben viele Menschen, die nicht sehr beweglich sind. Die bleiben vor Ort. Die anderen aber, die gut Ausgebildeten, fahren der Arbeit hinterher. Wenn ich also den Menschen im Ruhrgebiet keine Arbeit, keine gute Bildung, also keine richtige Perspektive mehr anbieten kann, wird sich Perspektivlosigkeit breitmachen und man braucht nicht viel Fantasie, um zu erahnen, was sich daraus entwickelt. Was nützt der exzellente Forschungsstandort Ruhrgebiet, wenn aus diesem Wissen vor Ort keine Arbeit entstehen kann, weil Flächen fehlen?

Wofür sollten diese Flächen genutzt werden? Für eine Wasserstoff-Modellregion?

Hovenjürgen: Wasserstoff ist nur ein Teil der Lösung. Wir können Umwelttechnologien entwickeln und herstellen, Konsumgüter und anderes. Was produziert wird, ist gar nicht so wichtig. Dass produziert wird, ist für das Ruhrgebiet wichtig. Wenn im Revier aus Mangel an Arbeit nicht mehr gearbeitet werden kann, verliert es sein Gesicht. Wir reden immer noch so gern von der Industrieregion Ruhrgebiet. Wenn wir aber genau hinschauen, sehen wir, dass wir das nicht mehr sind. Es gibt in NRW vier Regionen mit mehr sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in der Industrie: Münsterland, Südwestfalen, Bergisches Land und Ostwestfalen.

Das so genannte RVR-Gesetz sollte die Zusammenarbeit der Kommunen im Ruhrgebiet verbessern. Hat das funktioniert?

Hovenjürgen: Die Zusammenarbeit hat sich etwas verbessert, aber das Gesetz war kein großer Wurf. Auch die Direktwahl des Ruhrparlamentes hat keine nennenswerten Impulse ausgelöst. Es bleibt, wie es immer war: Oberbürgermeister und Landräte machen zuerst für die eigene Stadt oder den eigenen Kreis Politik. Und das ist verständlich. Denn der Bürger der Stadt oder des Kreises wird den Oberbürgermeister oder den Landrat daran messen, was er für ihre Stadt oder ihren Kreis erreicht hat und nicht, was sie für die Nachbarstadt oder den Nachbarkreis gemacht haben. Am Ende sieht sich jeder in dieser Großstadt-Gesellschaft als der Nabel der Welt, obwohl der Rest der Welt sich gar nicht dafür interessiert. Im Ausland wird das Ruhrgebiet als Ganzes gesehen.

Können Sie der alten Idee, einen Repräsentanten für das Ruhrgebiet direkt von den Bürgerinnen und Bürgern wählen zu lassen, noch etwas abgewinnen?

Hovenjürgen: Man kann das fordern. Aber bringt uns das weiter? Hätte dieses Revier-Oberhaupt Eingriffsmöglichkeiten? Eher nein. Dann bliebe am Ende nur die Möglichkeit des Appellierens.

Zur Person:

Der Landtagsabgeordnete Josef Hovenjürgen (60) arbeitet im NRW-Kommunalministerium als erster „Parlamentarischer Staatssekretär für die Belange des Ruhrgebiets und der Ruhrkonferenz“ in NRW. Der gelernte Landwirt ist in Haltern am See geboren, war von 2017 bis 2022 Generalsekretär der Landes-CDU und leitete zwischen 2014 und 2020 das „Ruhrparlament“, also die Verbandsversammlung des Regionalverbandes Ruhr (RVR). Hovenjürgen ist verheiratet und hat vier Kinder.