Düsseldorf. Die NRW-Antisemitismusbeauftragte Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) warnt vor Judenhass in der Kunst und in den Schulen.
2019 wurde Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) zur ersten Antisemitismusbeauftragten des Landes NRW berufen. In ihrem vierten Jahresbericht ließ die 71-Jährige am Donnerstag Stolz auf Erreichtes durchblicken, aber auch Besorgnis angesichts einer immer facettenreicheren Judenfeindlichkeit. So wirkten die Ereignisse bei der Ausstellung „documenta fifteen“ in Kassel „nachhaltig“ verunsichernd auf Jüdinnen und Juden auch hier in NRW.
Wie ist die Lage?
Ein Blick in die Kriminalitätsstatistik verführt zur falschen Annahme, die Lage bessere sich. Im Jahr 2021 wurden der Polizei 437 antisemitische Straftaten in NRW bekannt, im vergangenen Jahr waren es „nur“ 331, darunter 21 Gewalttaten. Es sind aber immer noch etwa sechs Straftaten in der Woche, meist verübt von rechten Tätern, und die meisten Angriffe, Beleidigungen und Demütigungen tauchen in keiner Statistik auf.
„Es gibt keinen Grund zur Entwarnung“, sagte Leutheusser-Schnarrenberger. Die Anschläge auf die Alte Synagoge in Essen und weitere jüdische Einrichtungen im Ruhrgebiet im November hätten gezeigt, dass das Ausmaß an Hass und Gewalt gegenüber Jüdinnen und Juden eher noch zunehme.
Was schlägt die Beauftragte vor?
Sie legt einen Schwerpunkt auf Schule und Bildung. So werde zum Beispiel ein einheitliches Meldeformular für Schulen entwickelt, um an allen Schulen auch Antisemitismus-Fälle, die nicht als Straftaten gelten, dokumentieren zu können. Darunter fallen zum Beispiel Beleidigungen und andere Taten, die von Kindern unter 14 Jahren begangen werden. Aktuelle Studien deuteten auf eine „deutliche Zunahme“ des Antisemitismus an Schulen hin.
„Antisemitismus sollte auch verpflichtend in der Ausbildung für alle Lehrämter verankert werden“, sagte die FDP-Politikerin. Darüber gebe es schon Gespräche mit Hochschulen und mit Wissenschaftsministerin Ina Brandes (CDU). Etwas leichter sei es, das Thema Antisemitismus fest in den Vorbereitungsdienst der Lehrkräfte aufzunehmen. NRW-Schulministerin Dorothee Feller (CDU) befürworte dies.
Leutheusser-Schnarrenberger kritisierte, dass jüdische und muslimische Studierende oft an hohen religiösen Feiertagen in Hochschul-Prüfungen geschickt würden, insbesondere in der Medizin: „Für die Betroffenen ist das ein Riesenproblem.“ Niemand komme auf die Idee, Studierende am 24. Dezember oder Ostern zu prüfen.
In der Justiz müssten Unsicherheiten abgebaut und der Kontakt zu Jüdinnen und Juden aufgebaut werden: In fünf Gerichtsverhandlungen zu Impfverweigerern, die Judensterne tragen, komme es heute zu fünf unterschiedlichen Urteilen und Einschätzungen, ob das Volksverhetzung sei oder nicht.
Wie wirkt Antisemitismus in der Kultur?
Antisemitisch beeinflusste Exponate überschatteten die Kunstschau „documenta fifteen“; in München wurde das Theaterstück „Vögel“ nach Antisemitismus-Vorwürfen abgesetzt; Pink Floyd-Mitgründer Roger Waters irritiert gerade bei Konzerten mit israelfeindlichen Signalen.
Kunstfreiheit sei wichtig, und Verbote juristisch schwer durchzusetzen, gibt Leutheusser-Schnarrenberger zu Bedenken. Kulturschaffende müssten aber besser darüber aufgeklärt werden, was Antisemitismus bei Jüdinnen und Juden auslöse. „Roger Waters zeichnet ein abgrundtiefes, einseitiges, verbohrtes und verbittertes Bild von Israel. Da kann man nur sagen: Leute, haltet euch fern!“, sagte sie.
Was tut NRW gegen Antisemitismus?
Vieles wurde angestoßen in den vergangenen vier Jahren. Seit einem Jahr arbeitet eine „Meldestelle Antisemitismus“, die auch Fälle dokumentiert, die nicht zur Anzeige kommen. Erste Ergebnisse sollen im Juni vorgestellt werden. Wissenschaftler ermitteln in diesem Jahr in einer „Dunkelfeld-Studie“ mit speziellen Fragebögen, wie tief der Antisemitismus wirklich in den Köpfen der Menschen steckt.
In den Staatsanwaltschaften in NRW haben 22 Antisemitismusbeauftragte die Arbeit aufgenommen. Es läuft eine wissenschaftlich begleitete Unterrichts-Beobachtung zu Antisemitismus in Schulen, Schulbücher wurden auf antisemitische Inhalte überprüft, weitere Studien beschäftigten sich mit Judenfeindlichkeit in der Jugendkultur, in Computerspielen und im „Gangsta Rap“. Es dürften also in NRW immer mehr Daten und Fakten zu offenem und verstecktem Antisemitismus zur Verfügung stehen.
Zur Person:
Die Juristin und FDP-Politikerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (71) war zweimal Bundesjustizministerin und engagiert sich seit vielen Jahren für Bürger- und Menschenrechte. Sie gehört dem linksliberalen Flügel der FDP an. Einer breiten Öffentlichkeit ist sie seit 1996 bekannt. Damals trat „SLS“, wie sie wegen ihres komplizierten Namens oft genannt wird, aus Protest gegen den von der Bundesregierung beschlossenen „Großen Lauschangriff“ als Justizministerin zurück.