Düsseldorf. Nach der Migrationsabstimmung mit der AfD, Brandmauer-Rissen und Altkanzlerinnnen-Schelte steckt die NRW-CDU im Loyalitätskonflikt.
„Spontaneität“ ist für einen Politiker-Typus wie Hendrik Wüst eigentlich nur die charmante Übersetzung von fehlender Planung und schlechter Vorbereitung. Der NRW-Ministerpräsident wägt zumeist genau ab, wann und was und wie er etwas sagt. Wer die eigene Wirkung möglichst richtig vorausberechnet, wird selten auf dem falschen Fuß erwischt.
Am Donnerstagmorgen weicht Wüst erstaunlicherweise von seiner Anti-Stegreif-Strategie ab. Es ist Plenartag im NRW-Landtag, und SPD-Oppositionsführer Jochen Ott nutzt einen Passus in der Geschäftsordnung des Parlaments, um vor Eintritt in die Tagesordnung eine persönliche Erklärung abgeben zu dürfen. Ein überraschendes Manöver.
Ott beklagt einen „ungeheuerlichen Tabubruch“ der Union im Bundestag, die am Vortag erstmals mit der in Teilen rechtsextremen AfD für eine Migrationswende in Deutschland gestimmt hatte. Wüst solle sich in dieser historischen Stunde vom Kanzlerkandidaten Friedrich Merz und dessen Einreißen der Brandmauer nach rechts distanzieren, fordert der SPD-Politiker aus Köln.
Wüst belässt es bei einer stilistischen Distanzierung zu Merz
Als Landtagspräsident André Kuper (CDU) anschließend abfragt, ob weitere Abgeordnete eine persönliche Erklärung abgeben wollen, erhebt sich Wüst. Gemessenen Schrittes geht er die vier Meter hinüber zum Rednerpult. Während des Ott-Auftritts hat er sich nur einige Notizen gemacht. Auf die sonst sorgsam durchgearbeiteten Manuskripte aus seinem Redenschreiber-Referat verzichtet er diesmal.
Als Ministerpräsident des bevölkerungsreichsten Bundeslandes und Chef des größten CDU-Landesverbandes kann sich Wüst zwar keinesfalls drei Wochen vor der Bundestagswahl vom eigenen Kanzlerkandidaten abwenden. Doch in Ton und Inhalt reizt er das Maximale aus, was man als stilistische Distanzierung lesen könnte, ohne den Namen „Merz“ in den Mund zu nehmen.
Wüst spricht leise und langsam. Er sei der festen Überzeugung, „dass die großen Probleme in dieser Zeit aus der demokratischen Mitte heraus gelöst werden müssen“. Er appelliert an die demokratischen Parteien, die drängenden Probleme zusammen anzugehen - „sachlich und ohne Hetze, aber konsequent“. Der Aufstieg der AfD müsse verhindert werden, betont Wüst.
Er klingt dabei ganz anders als sein Kanzlerkandidat Merz, der beim Thema Migration keine Kompromisse mehr machen und „nur geradeaus“ gucken will, selbst wenn die Falschen von der AfD dem von ihm als richtig Erkannten zustimmten.
Wüst hat Merkel gerade erst den roten Teppich ausgerollt
Was der NRW-Ministerpräsident in diesem Augenblick am Rednerpult des Landtags mutmaßlich noch nicht ahnt, sind die Turbulenzen, die eine Stunde später seine Partei durchschütteln werden. Die Veröffentlichung der „Erklärung von Bundeskanzlerin a. D. Dr. Angela Merkel“, die nichts anderes ist als eine beispiellose Abrechnung mit dem Kurs ihres Nach-Nach-Nachfolgers Merz, stürzt viele Christdemokraten an Rhein und Ruhr in einen ernsthaften Loyalitätskonflikt.
Rein gesetzgeberisch ist die Lage für Wüst leicht zu bewältigen: Selbst wenn die Merz-CDU mit AfD-Stimmen nicht nur einen symbolträchtigen Antrag durch den Bundestag bringen sollte, sondern an diesem Freitag auch noch ein Migrationsgesetz, passiert erstmal nichts. NRW würde diesem Mitte Februar bei der letzten Bundesratssitzung vor der Wahl ohnehin nicht zustimmen.
NRW wird Merz-Gesetz im Bundesrat nicht zustimmen
Vize-Ministerpräsidentin Mona Neubaur (Grüne) stellt auf Anfrage die Ablehnung in der Länderkammer ziemlich klar: „Grundsätzlich gilt für diese Landesregierung: Mit Rechtsextremen macht man keine gemeinsame Sache und man unterstützt auch keine Initiativen, die nur durch ihre Zustimmung zustande gekommen sind.“
Parteiintern wird die Sache für Wüst komplizierter. Der 49-Jährige hielt sich lange als mögliche Kanzlerkandidaten-Alternative zum vergleichsweise unpopulären Merz im Gespräch. Seit der Parteivorsitzende von seinem Zugriffsrecht Gebrauch machte, verhält er sich jedoch loyal und weiß als jahrzehntelanger Parteimensch, dass seine CDU das auch so erwartet.
Wüst kokettierte mit dem Sprung auf die Bundesbühne gewiss aus persönlichem Karriereehrgeiz, aber auch aus der gewachsenen Überzeugung heraus, dass die Union möglichst anschlussfähig bleiben muss in viele Milieus. Wüst erträgt manchen Spott über seine smarte „Schwiegersohn-Haftigkeit“ gelassen, weil er gelernt hat, dass individualisierte Gesellschaften einen freundlichen Schnittmengen-Typen brauchen, auf den sich möglichst viele verständigen können. Ein persönlicher Reifeprozess und sein neues Leben als später Vater, der neuerdings in Kita-Elternchatgruppen eine neue Welt außerhalb des CDU-Kosmos entdeckt, tun ihr Übriges.
Nach 30 Jahren Politik voller Höhen und Tiefen scheint Wüst verinnerlicht zu haben: Kantige, impulsive Typen werden häufig parteiintern gefeiert, aber selten von der entscheidenden Mitte gewählt. Dass seit Mittwoch Kirchen und Künstler, Caritas, Diakonie und Migrantenverbände gegen die Union Sturm laufen, ist einem wie ihm nicht egal.
Wüst hat sich von Merkel einige Machttechniken abgeschaut
Da kommt Merkel ins Spiel. Wüst kennt als westfälisches Landkind und wirtschaftsnaher Jurist eigentlich die Merz-Welt in- und auswendig. Doch in den vergangenen Jahren wurde er trotz schwarz-grüner Regierungskoalition und mieser NRW-Kennziffern zu einem der beliebtesten Politiker Deutschlands, weil er etliche Anleihen bei Merkel nimmt. Keine Polarisierung, nie zu forsch, wenig Verhetzungspotenzial, immer langsam mit den Leuten und stets die Umfragelage im Blick – die Machttechniken der Altkanzlerin hat er studiert.
Vor 14 Tagen präsentierte Wüst überraschend Merkel als Stargast des Neujahrsempfangs der NRW-CDU. Am Vorabend soll man sich zum Vier-Augen-Austausch getroffen haben. Die Veranstaltung im Düsseldorfer Flughafen geriet zur Huldigung. 1300 Gäste drängten sich, noch eine Stunde nach ihrer Rede musste Merkel Bücher signieren und für Selfies posieren. Wüst weiß, dass das Reservoir der Merkel-Wähler größer ist, als man in der entmerkelten Merz-CDU wahrhaben will.
Der NRW-Ministerpräsident wird in der Brandmauer-Debatte nun als Brückenbauer zwischen dem Lager der Altkanzlerin und dem des aktuellen Kanzlerkandidaten gebraucht. Kann er das leisten?