Düsseldorf. Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Kai Gehring gehört zu den vielen bekannten Gesichtern, die nicht mehr antreten. Hier sagt er, warum.

Mit der Neuwahl des Bundestags verabschieden sich auffallend viele etablierte Abgeordnete aus freien Stücken vom Berliner Betrieb. Einer von ihnen ist der Essener Grünen-Politiker und Vorsitzende des Wissenschaftsausschusses Kai Gehring. Wie sich die politische Kultur verändert hat, erzählt der 47-Jährige im Interview.

Herr Gehring, Sie sind mit 47 im besten Politikeralter, waren seit 20 Jahren immer auf guten Listenplätzen der Grünen und machen jetzt trotzdem Schluss. Warum nur?

Ich habe es immer als riesiges Privileg und große Ehre empfunden, Mitglied des deutschen Bundestages zu sein. Aber Demokratie lebt auch vom Wechsel, damit neue Abgeordnete neue Sichtweisen einbringen können. Ich wollte nie in Routine erstarren. Ich bin fünfmal in die Herzkammer der Demokratie gewählt worden, habe vieles bewirkt. Nach 20 Jahren tut es gut, ein neues Kapitel aufzublättern.

Das klingt abgeklärt. Politiker tun sich gemeinhin schwerer, von der „Droge Politik“ loszukommen..

Politik ist faszinierend. Es ist wunderbar, echte Veränderungen gestalten zu können. Anderseits ist es auch ein Knochenjob.

Sie waren lange Bildungspolitiker und zuletzt Vorsitzender des Ausschusses für Bildung- und Forschung. Auf welche Veränderung sind Sie im Rückblick besonders stolz?

Die wichtigste Weichenstellung meiner politischen Laufbahn war das Startchancen-Programm, das ich erfunden habe und 2021 in den Koalitionsvertrag der Ampel verhandeln konnte. Das ist ein Riesenschritt für mehr Bildungs- und Chancengerechtigkeit. Von diesem Förderprogramm des Bundes werden allein in Nordrhein-Westfalen 920 Schulen und 250.000 Schülerinnen und Schulen in benachteiligten Quartieren profitieren.

Der Bundestagsabgeordneter der Grünen Kai Gehring steigt aus der Politik aus.
Der Bundestagsabgeordneter der Grünen Kai Gehring steigt aus der Politik aus. © FUNKE Foto Services | Andreas Buck

Was bleibt persönlich in Erinnerung?

Einer der fröhlichsten und glücklichsten Momente war die Öffnung der Ehe für alle. Die Abstimmung im Bundestag 2017 war für mich sehr emotional. Das Foto mit der Konfettikanone, die wir nach der Entscheidung in den Reihen der Grünen-Fraktion gezündet haben, hängt inzwischen im Museum. Mein Credo: Gleiche Chancen, gleiche Rechte - nur das ist fair.

Sie leben selbst in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft, wissen aber vermutlich, dass die „Ehe für alle“ bis heute in konservativen Kreisen eher kritisch gesehen wird…

Ich habe nie verstanden, dass man hassen kann, wenn sich zwei Menschen lieben. Der Bundestag hat damit den Weg frei gemacht für mehr Hochzeitsfeiern. Was gibt es Schöneres?

Sie haben mal gesagt, die Grünen seien oft „Boxsack“ für alle anderen Parteien. Verstehen Sie, dass ihre Partei es der Mehrheitsgesellschaft mit „Wokeness“ oder Gesetzen wie dem Doppelpass oder dem Recht auf Änderung des Geschlechtseintrags nicht immer leicht macht?

Ich war als Abgeordneter immer froh, wenn ich bei ganz konkreten Einzelschicksalen betroffenen Menschen helfen konnte. Das war bei der Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts so oder auch beim Selbstbestimmungsgesetz, das zwar umstritten war, aber zwei von 10.000 Menschen gleiche Rechte gebracht hat.

Sie wurden im Frühjahr 2024 gemeinsam mit einem Parteifreund auf offener Straße in Essen attackiert. Ist danach die Entscheidung gereift, mit der Politik Schluss zu machen?

Nein. Die Attacke war schockierend, aber ich bin sehr robust. Es hat keine Rolle gespielt bei meinem Verzicht auf eine erneute Kandidatur. Unverkennbar ist jedoch, wie in den vergangenen 20 Jahren die Politiker-Verachtung in der Gesellschaft gewachsen ist.

Woran merken Sie das?

Ich habe mich nie beklagt. Doch die Haltung zu Bundestagsabgeordneten ist bei vielen Menschen, die wir im Parlament engagiert vertreten, eine paradoxe: Wir sind alle doof, sollen aber auch alles richten, immer verfügbar sein und als Blitzableiter für alle und alles herhalten. Zugleich hält sich das Vorurteil, wir seien faul. Ich kann nach zwei Jahrzehnten 80-Stunden-Wochen nicht sagen, dass die Work-Life-Balance vor allem auf Life stand.

Welche Rolle spielen die sozialen Netzwerke?

Hass und Hetze haben durch digitale Desinformationskampagnen zugenommen. Als ich 1998 erstmals im Wahlkampf aktiv war, wurde ich am Infostand auch schon wüst beschimpft, einmal gar angespuckt, weil wir damals Spritpreise erhöhen wollten. Heute sind Gewaltandrohungen und Einschüchterungsversuche auch durch soziale Medien alltäglicher geworden.

Wie hat sich der Parlamentarismus selbst verändert?

Die politische Debatte war immer ein hartes Geschäft. Wenn man sich alte Reden von Franz Josef Strauß ansieht, lässt sich schlecht sagen, früher wären die Kolleginnen und Kollegen sanftmütiger miteinander umgegangen. Doch es gab immer über Fraktionen hinweg eine persönliche Ebene, die Streit in der Sache aushielt.

Sie gehörten vor knapp 15 Jahren zu den ersten Abgeordneten, die den damaligen Verteidigungsminister Guttenberg wegen seiner abgeschriebenen Doktorarbeit ziemlich gegrillt haben. Werden Sie einfach nicht mehr die Geister los, die Sie gerufen haben?

Kritische Kontrolle der Regierungsarbeit und der persönlichen - hier wissenschaftlichen - Integrität von Regierungsmitgliedern ist Aufgabe der Opposition. Da ist keiner zimperlich. Ich pflege trotzdem viele gute Kontakte zu Mitgliedern anderer Fraktionen. Der Einzug der AfD in den Bundestag hat jedoch das Klima vergiftet. Demokratische Gepflogenheiten werden seither in Frage gestellt. Ich hätte mir zum Beispiel nie die Verrohung vorstellen können, dass wir in unserer Hausordnung explizit ein Verbot von Waffen im Bundestag festschreiben mussten.

Sie sind Diplom-Sozialwissenschaftler mit 20 Jahren Erfahrungen in der Berufspolitik. Jetzt machen Sie Schluss, ohne genau zu wissen, wie es weitergeht mit Ihnen?

Für mich galt immer: Ich lebe mit Politik, aber nicht für Politik. Ich habe Ideen, bin offen für Neues und zuversichtlich, dass die berufliche Neuorientierung gelingt.