Düsseldorf. Die NRW-Antisemitismusbeauftragte Sylvia Löhrmann über das Gedenken an die Auschwitz-Befreiung. Sie warnt auch vor aktuellen Entwicklungen.
Sylvia Löhrmann (67, Grüne) hat als NRW-Antisemitismusbeauftragte die Nachfolge von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) übernommen. Mit Matthias Korfmann sprach die frühere NRW-Schulministerin über das Gedenken an die Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz, den Rechtsruck in Europa und in der Welt und über die Unterschiede zwischen Deutschland und den USA.
Frau Löhrmann, wie blicken Sie auf den Gedenktag der Auschwitz-Befreiung?
Sylvia Löhrmann: Ich denke unter anderem daran, wie wenige Überlebende 80 Jahre nach der Befreiung noch unter uns sind. Es sind jetzt ihre Nachfahren, die die Fackel der Erinnerung weitertragen. Bei der Gedenkfeier des Landes NRW werden auch Nachfahren von Überlebenden dabei sein, mit denen ich über ihren Umgang mit dem Erbe ihrer Vorfahren sprechen werde.
Die Mahnung, die von Auschwitz ausgeht, ist nach dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 noch wichtiger geworden. Der Antisemitismus ist heute sehr weit aufgefächert, und wir dürfen nicht jenen auf dem Leim gehen, die den Holocaust relativieren und die Opfer zu Tätern machen wollen. Antisemitismus geht uns alle an, das müssen wir begreifen.
Warum?
Sylvia Löhrmann: Weil der Antisemitismus kein Problem einer kleinen Minderheit ist. Und er ist der Gradmesser für den Zustand unserer Demokratie.
Sie sagen, die Nachfahren der Überlebenden tragen nun die Fackel der Erinnerung. Kann das funktionieren?
Sylvia Löhrmann: Es muss, und ich bin da sehr zuversichtlich. Eine der wichtigsten Zeitzeuginnen, die schon lange tot ist, ist Anne Frank. Das Schicksal dieses jungen Mädchens bewegt junge und ältere Menschen noch heute. Ein Mädchen, das in einem Versteck ausharren muss, das über das Verliebtsein schreibt, über familiäre Konflikte, das in einem verbrecherischen System verraten und vernichtet wird. Das kleine Zeugnis dieses Buches erreicht Millionen Menschen. Oder denken wir an den Sportjournalisten Marcel Reif. Er hat auf beeindruckende Weise dargestellt, was es für ihn bedeutet, Sohn eines jüdischen Überlebenden zu sein. Reifs Worte im Bundestag – „Sei ein Mensch“ – haben viele Menschen tief bewegt.
Sind Sie dafür, Gedenkstättenfahrten für Schülerinnen und Schüler verpflichtend zu machen?
Sylvia Löhrmann: Sie sollten allen Schülerinnen und Schülern ermöglicht werden. Das ist der richtige Ansatz. Die Fahrten selbst müssen aber zwingend in eine gute Vor- und Nachbereitung eingebettet werden. Denn die Teilnehmer sind danach sozusagen „Zweitzeugen“ – mit dem Auftrag, das Erlebte und die Geschichte weiterzugeben. Wichtig ist außerdem, sich möglichst auch mit Einzelschicksalen auseinanderzusetzen, dadurch erhalten sie einen noch emotionaleren Zugang zum Geschehenen. Aus den abstrakten Millionen Opfern wird dann ein konkreter Mensch. Ebenfalls wichtig: Die Jugendlichen und ihre Eltern müssen einverstanden sein, denn manche Jugendliche verkraften den Besuch eines Vernichtungslagers nicht.
Zur Person: Sylvia Löhrmann
Staatsministerin a.D. Sylvia Löhrmann war von 1995 bis 2017 Mitglied des Landtags Nordrhein-Westfalen. Als stellvertretende Vorsitzende engagierte sie sich in der deutsch-israelischen Parlamentariergruppe im Landtag. Von 2010 bis 2017 war Sylvia Löhrmann stellvertretende Ministerpräsidentin und Ministerin für Schule und Weiterbildung. Als Generalsekretärin des Vereins „321-2021: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ war sie maßgeblich am Erfolg des Festjahres beteiligt und hat dazu beigetragen, jüdisches Leben in Vergangenheit und Gegenwart sichtbar zu machen. (Quelle: Staatskanzlei NRW)
Wir sehen in den USA und in vielen anderen Ländern, dass die bösen Geister der Vergangenheit zurückkommen: Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit, das Recht des Stärkeren, das Verachten von Schwäche. Laut einer aktuellen Studie ( „The ADL Global 100“) hat weltweit etwa jeder zweite Mensch „tief verwurzelte antisemitische Einstellungen“. Hat die Welt verlernt, was in Auschwitz geschah?
Sylvia Löhrmann: Ja, Teile der Gesellschaft haben es vergessen oder nie begriffen. Aus der NRW-Dunkelfeldstudie, die meine Vorgängerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger im vergangenen Jahr vorstellte, gaben etwa 47 Prozent der Befragten an, einen Schlussstrich unter die Beschäftigung mit dem Holocaust ziehen zu wollen. Wir nehmen eine Verschiebung nach rechts wahr, in NRW und weltweit, bei der demokratische Errungenschaften in Misskredit gebracht werden. Der Ruf nach einem starken Mann, der alles regelt, ist wieder zu hören.
Nach einem wie Donald Trump?
Sylvia Löhrmann: Ich habe am Tag der Trump-Vereidigung auch daran gedacht, dass der 20. Januar der Jahrestag der Wannseekonferenz ist. Als ich Trumps Rede hörte, als ich sah, wie die Menge reagierte, als ich Elon Musks Reaktion, der keine politische Legitimation hat, beobachtete, habe ich gedacht: Wie dankbar bin ich, dass hier in Deutschland niemand so viel alleinige Macht hat! Der demokratische föderale Rechtsstaat und der Schutz durch unser Grundgesetz sind ein Segen.
Auch in Deutschland gibt es stärker werdende Kräfte, die den demokratischen Rechtsstaat nicht wertschätzen. Dabei müssten wir nach einer intensiven Vergangenheitsbewältigung diese Lektion doch gelernt haben, oder?
Sylvia Löhrmann: Wir wissen nicht, wie die Lage wäre, wenn es diese Vergangenheitsbewältigung nicht gegeben hätte. Der Rechtsruck zeigt, dass wir auf keinen Fall nachlassen dürfen. Wenn wir Antisemitismus bekämpfen, schützen wir gleichzeitig unsere demokratischen Grundfesten: die Gewaltenteilung, die Pressefreiheit und die Menschenrechte. Es ist unerträglich, wenn Jüdinnen und Juden mit deutscher Staatsbürgerschaft pauschal gleichgesetzt werden mit der Regierung Netanjahu. Wir müssen stärker zeigen, wie sich die jüdische Szene kulturell engagiert und unsere Gesellschaft bereichert, es ist nicht gut, dass Jüdinnen und Juden beispielsweise in Schulbüchern fast immer nur als Opfer dargestellt werden. Die Arbeit gegen diese falschen Bilder in den Köpfen ist ein Dauerlauf, herausfordernder noch als ein Marathon.
Wenn Sie sagen, es gehe um den Schutz der Gewaltenteilung und der Pressefreiheit: Haben Sie den Eindruck, dass die Situation heute der Krise in den 1920-er Jahren ähnelt?
Sylvia Löhrmann: So weit würde ich nicht gehen. In unserem Staat sind die Grundrechte geschützt. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes waren weise. Allerdings hätte ich mir vor ein paar Jahren nicht vorstellen können, wie groß inzwischen die Kräfte sind, die den Staat entdemokratisieren wollen.
Manche behaupten, der Antisemitismus werde nach Deutschland und NRW „importiert“. Was sagen Sie dazu?
Sylvia Löhrmann: Es gibt sehr unterschiedliche Ausprägungen des Antisemitismus, und alle müssen bekämpft werden. Es gab schon lange vor 1933 einen tiefsitzenden Antisemitismus. In der Nazidiktatur wurde daraus ein industriell organisierter Massenmord mit dem Ziel, alle Jüdinnen und Juden zu vernichten. Nach 1945 ging es weiter. Denken wir zum Beispiel an die Schändung der Synagoge in Köln 1959, an das Olympia-Attentat 1972 in München, an den Anschlag auf die Synagoge in Halle. Es ist nicht so, als hätten wir dieses Problem erst durch Zuwanderung bekommen.
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